Die Rolle der juristischen Zeitschriftenliteratur bei der Harmonisierung des Privatrechts in Europa

AuthorChristian von Bar
PositionProf. Dr. jur., Dr. jur. h. c. mult. FBA Universität Osnabrück
Pages4-10

Die Rolle der juristischen Zeitschriftenliteratur bei der Harmonisierung des Privatrechts in Europa*

1. Einleitung

Mir ist die Aufgabe zugedacht, über die Rolle der juristischen Zeitschriftenliteratur bei der Harmonisierung des Privatrechts in Europa zu sprechen. Ich hätte es besser wissen müssen, aber wahr ist, dass mir, als ich die Einladung annahm, keineswegs klar war, dass sich hinter diesem Thema eine nicht geringe Herausforderung verbirgt. Heute muss ich gestehen, dass es mir in der kurzen Vorbereitungszeit für meinen Vortrag nicht möglich gewesen ist, mich der mir zugedachten Aufgabe in angemessener Weise zu stellen. Ich hätte es mir zwar einfach machen können, indem ich sage, was vielleicht sogar von mir erwartet wird: dass nämlich die Rolle der juristischen Zeitschriften bei der Angleichung des Privatrechts in Europa groß und wichtig sei. Aber das erschien mir dann doch zu banal - mit der Folge, dass ich mich plötzlich mit einem ebenso interessanten wie umfangreichen Fragenkatalog konfrontiert sah. Verstehe ich das Thema richtig, dann geht es nämlich (i) um eine Ermittlung des Europäisierungsgrades der rechtswissenschaftlichen Zeitschriften in der Europäischen Union, (ii) um eine vergleichende Bewertung des so erhobenen Befundes und (iii) um eine Einschätzung der wissenschaftlichen und der rechtspolitischen Wirkmächtigkeit von Zeitschriftenaufsätzen zu unserem Generalthema, der Privatrechtsangleichung in Europa. Zu diesen drei Fragenkreisen kann ich indes nicht viel mehr als einige erste Beobachtungen beisteuern. Methodisch valide Aussagen hätten einer breiteren Erhebungsbasis als der bedurft, die ich mir habe erarbeiten können.

2. Zahlen

Wie viele rechtswissenschaftliche Zeitschriften es derzeit gibt, scheint niemand auch nur annähernd verlässlich sagen zu können. Die Datenlage ist außerordentlich unbefriedigend. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Juristen unter einer juristischen "Zeitschrift" meistens etwas anders verstehen als Bibliothekare. Letztere zählen in aller Regel auch Entscheidungssammlungen, Gesetzblätter, Jahrbücher, ja manchmal selbst Lose- blattsammlungen und Fortsetzungswerke anderer Art zu den "Zeitschriften". Wir Juristen verstehen unter einer "juristischen Zeitschrift" dagegen ein regelmäßig erscheinendes Publikationsorgan für rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Aufsätze. Dass man den Begriff des rechts ‚wissenschaftlichen' Aufsatzes verhältnismäßig weit fassen muss, ändert daran nichts. Die Zeiten, in denen ein Autor seine Erkennntnisse veröffentlichte, weil er glaubte, etwas Neues gefunden zu haben, scheinen in manchen Ländern Europas allmählich einer Kultur zu weichen, in der Autoren den Schritt in die Öffentlichkeit schon dann suchen, wenn sie glauben, etwas verstanden zu haben!

Die Zeitschriftendatenbank der zur Stiftung preußischer Kulturbesitz gehörenden Staatsbibliothek in Berlin (die ZDB 1), eine der größten Datenbanken für Titel- und Besitznachweise fortlaufender Sammelwerke, verzeichnet mehr als 1,5 Mio. Titel in den meisten Sprachen der Erde. Nachgewiesen sind die gedruckten und elektronischen Zeitschriftenbestände deutscher und österreichischer Bibliotheken seit dem Jahre 1500. Diese Datenbank ist damit zwar umfassend und zuverlässig - für die Beantwortung der Frage, wieviele juristische Zeitschriften es auf der Welt (oder wenigstens in Europa oder in Deutschland) gibt, aber nicht wirklich hilfreich. Zwar kann man in ihr nach Fachgebieten und Unterfachgebieten selektieren. Aber die Datenbank enthält eben nicht nur juristische Fachzeitschriften im engeren Sinn, sondern Titel- und Besitznachweise zu allem, was irgendwie mit Recht in Verbindung gebracht werden kann, und sie kommt so allein für Deutschland auf die exorbitante Zahl von 15.689 Titeln, davon 4.765, die dem Privatrecht zugerechnet werden könnten. Weltweit verzeichnet sie 86.069 juristische Sammelwerke. Aber was hat man schon von dieser Information, wenn man weiß, dass auch der Haushaltsplan der Stadt Berlin und die "Informationen des Personalamtes der Stadt Mainz" in der Datenbank nachgewiesen sind!

Ich musste also andere Wege beschreiten und mich mit Schätzwerten begnügen. Die Rechtsbibliographie Kuselit 2 verzeichnet für Deutschland 789 aktuelle juristische Zeitschriften, wertet allerdings - wenngleich in geringer Zahl - auch historische, politische, wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Zeitschriften aus. Der bibliothekarische Dienst meiner Universität 3 schätzt deshalb auf dieser Grundlage die Zahl der deutschen rechtswissenschaftlichen Zeitschriften auf ca. 700; etwa ein gutes Drittel von ihnen soll sich zumindest auch mit privatrechtlichen Themen befassen. Die Zahl der deutschsprachigen juristischen Zeitschriften (d.h. unter Einrechnung Österreichs, der Schweiz und Liechtensteins) liegt natürlich noch etwas höher, vielleicht bei insgesamt 850.

Im Vereinigten Königreich soll es nach einer schon etwas älteren Erhebung der Universität Warwick im Jahre 1998 194 rechtswissenschaftliche Zeitschriften gegeben haben 4; rechnen wir also heute mit ca. 200. Der Portugalreferent unseres Osnabrücker Instituts zählt für sein Land 50 im heutigen Buchhandel erhältliche juristische Fachzeitschriften 5, der Italienreferent gleich das Neunfache, nämlich 4536. Die entsprechende Recherche für Irland ergab 32 Titel, incl. der nordirischen Zeitschriften 7, diejenige für Griechenland 62 8, diejenige für Ungarn 102 9, diejenige für Belgien die erstaunliche Zahl 226 10 und eine datenbankgestützte Recherche für Polen insgesamt 297 Titel. Zusammen mit den dort nicht erfassten Zeitschriften dürfte sich für Polen eine Gesamtzahl von ca. 350 juristischen Fachzeitschriften ergeben11. Weitere Zahlen habe ich leider nicht ermitteln können. Für Frankreich und Spanien muss man noch einmal mit großen, in den übrigen Ländern dagegen mit geringeren Zahlen rechnen. Eine verlässliche Hochrechnung auf die Staaten der Europäischen Union ist mir gleichwohl nicht möglich gewesen. Wenn man eine Größenordnung haben will, wird man vielleicht mit einer Zahl um die 4.000 nicht völlig falsch liegen. Das entspräche einer juristischen Fachzeitschrift auf etwa 125.000 Unionsbürger. Europa, das jedenfalls lässt sich sagen, hat einen enormen ‚output' an juristischen Publikationen.

3. Arten und Veränderungen

Aus der großen Menge rechtswissenschaftlicher Zeitschriften sind für unsere Zwecke allerdings nur einige wenige wirklich relevant. Zwar befasst man sich in vielen Ländern der Welt auch mit Fragen der Rechtsangleichung in Europa, in China, Japan, Korea, Russland und Südafrika z. B., und in einigen dieser Länder finden sich sogar spezielle Zeitschriften zu unserem Thema, etwa das Moskauer European Legal Culturesund das auch in Europa nicht ganz selten zitierte Tulane European and Civil Law Forum.Fragen der Rechtsangleichung in Europa werden außerdem natürlich auch von den allgemeinen Zeitschriften zur Rechtsvergleichung aufgegriffen, u.a. von dem American Journal of Comparative Lawund dem Electronic Journal of Comparative Law.Die in den außereuropäischen Ländern veröffentlichten Zeitschriftenbeiträge sind freilich ihrer Zwecksetzung gemäß oft doch mehr beschreibender als analytischer Natur. Sie stellen der jeweiligen nationalen Leserschaft vor, was in Europa geschieht. Aufsätze, mit denen sich ein Autor unmittelbar in die hier laufenden Debatten einschalten will, veröffentlicht er dort also besser nicht.

Aber auch in Europa, genauer: in den Ländern der Europäischen Union, bleibt die Zahl der für unser Thema relevanten Zeitschriften letztlich doch überschaubar. Die zahlreichen Titel zum öffentlichen Recht und zum Strafrecht scheiden von vornherein aus der Betrachtung aus, nicht freilich die oft bemerkenswert weltoffenen Zeitschriften zum Arbeits- und Sozialrecht, und auch nicht diejenigen zum Recht des Geistigen Eigentums, des Gesellschafts- und des sonstigen Wirtschaftsrechts. In der Natur der Sache liegt es, dass die durchaus umfangreiche Zeitschriftenliteratur zum Internationalen Privatrecht und zum internationalen Zivilverfahrensrecht eine kontinuierlich steigende Zahl von Beiträgen zu gemeinschaftsrechtlich überlagerten Fragen bringt: Große Teile dieser Materien sind eben längst schon reines Gemeinschaftsrechtrecht. Nur noch in Teilbereichen - dem Internationalen Familien- und dem Internationalen Erbrecht z. B. - geht es hier noch um rechtspolitisch streitige Angleichungsfragen; alles andere ist bereits angeglichen und wird deshalb schriftstellerisch nicht anders als "ganz normales" innerstaatliches Recht begleitet und dogmatisch überformt. Generell sind die Liebhaber des Internationalen Privatrechts aber sozusagen die "natürlichen Gegner" der Angleichung des materiellen Rechts. Letztere wird als Gefahr für die Artenvielfalt im Garten des Kollisionsrechts begriffen. Zeitschriften wie der weltberühmten Revue critique de droit international privéwerden deshalb typischerweise Artikel angeboten, welche den Prozess der Angleichung des europäischen Vertragsrechts als überflüssig und unerwünscht "entlarven"12.

In der europäischen Zeitschriftenlandschaft haben sich in den vergangenen Jahren...

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