Massenmedien und die Strafrestaussetzung zur Bewährung: Empirische Untersuchung der massenmedialen Darstellung von der bedingt-vorfristigen Entlassung in Estland

AuthorNorman Aas
Pages89-99

Norman Aas

Massenmedien und die Strafrestaussetzung zur Bewährung: Empirische Untersuchung der massenmedialen Darstellung von der bedingt-vorfristigen Entlassung in Estland

1. Vorwort

Die Diskussion um die "Innere Sicherheit" ist in Estland in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema der Medien und in der Innenpolitik geworden. Steigende Kriminalität, grausame Straftaten, die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung1 und Mangel an Gefängnisplätzen sind Tagesthemen. Dies ist einerseits eine Chance, für die zunehmenden Probleme der Strafvollstreckung mehr Verständnis zu finden und auch die nötigen Mittel zu erhalten, um wirkungsvoll reagieren zu können. Anderseits gerät das Strafrecht dadurch auch vermehrt in Spannungsfelder der Parteipolitik und der öffentlichen Meinung. Es zeigt sich dabei mit aller Deutlichkeit, daß die Erwartungen an die Strafen uneinheitlich sind und der gesetzliche Auftrag an die Strafvollstreckung höchst unterschiedlich interpretiert wird.

Heute, wenn das estnische Bewährungshilfesystem den fünften Geburtstag feiert, ist die angemessene Zeit auf Geburtswehen dieses Systems zurückzublicken, weil nur selten läßt sich die öffentliche Meinung bezüglich der Strafvollstreckung so überschaubar und konzentriert analysieren, wie im Fall der Einsetzung des Bewährungshilfesystems2. Innerhalb kürzester Zeit mußte der Öffentlichkeit die Umwandlung von der notwendigen Sozialarbeit zur Beihilfe zur Begehung der Straftaten vermittelt werden.

In dieser Arbeit wird anhand der 111 von 01.01.1995 bis 31.05.2000 in den beiden größeren estnischen Tageszeitungen - Estnische Tageszeitung (im folgenden EPL) (56 Aufsätze) und Postmann (im folgenden PM) (55 Aufsätze) - erschienenen Aufsätze, welche die vorfristige Entlassung der Gefangenen und die Reform des Sanktionensystems behandelten, zu zeigen sein, welche Rolle die Berichterstattung über die Strafrestaussetzung im Rahmen der allgemeinen massenmedialen Informationsverarbeitung zum Thema Kriminalität einnimmt und welcher Mechanismen sich Massenmedien bedienen, um die Aufgabe von Gestaltung der öffentlichen Meinung wahrzunehmen. Anderseits wird zu versuchen sein, die Schwierigkeiten herauszubringen, die mit der Umorientierung der öffentlichen Meinung dem liberalen und spezialpräventiven Strafrecht verbunden sind.

2. Medienkriminalitätsdarstellung und ihre Wirkungen

Das Wissen bestimmt die Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Umwelt und ihr soziales Handeln, es entsteht in den verschiedenen Handlungsfeldern, in denen Individuen ihre Erfahrungen machen. Dabei lassen sich, zumindest theoretisch, zwei Ebenen des Wissenserwerbs voneinander unterscheiden. Bewußtseinsbildung vollzieht sich zum einen in den täglichen Erfahrungen der Menschen innerhalb ihrer sozialen Schichten und Gruppen3. Die unmittelbaren konkreten Erfahrungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen, sowie der Austausch mit anderen, beeinflussen das Wissen über Kriminalität und Kriminalitätskontrolle. Gesamtgesellschaftliches Wissen wird demgegenüber durch Normvermittlungs- und Kontrollinstanzen - wie z. B. Schulen, Gewerkschaften, Polizei - interpretiert. Massenmedien können in diesem Rahmen als die Instanz angesehen werden, die Normen der Gesellschaft umfassend ohne Beschränkung auf bestimmte Schichten und Gruppen vermittelt. Massenmedien wirken damit als Sozialisationsinstanzen, die innerhalb der Gesellschaft Kriminalität definieren4.

Die Massenmedien schildern abweichende Verhaltensweisen, um den Konsumenten zu vermitteln, welches Verhalten erwünscht ist. Sie stellen somit eine Instanz gesellschaftlicher Konsensbildung und -sicherung dar. Anderseits werden durch diese Darstellung unerwünschter Verhaltensweisen die normativen Grenzen der Gesellschaft festgelegt. Neben der Verdeutlichung, daß Abweichung sanktioniert werde - sich Straftaten folglich nicht lohnen - liegt der Sinn der Darstellung auch darin, den Medienkonsumenten in seinem gesellschaftlichen Verhalten zu bestärken. Die beiden oben erwähnten Funktionen kann man dadurch zusammenfassen, daß man den Massenmedien die Funktion zuweist, mittels der Berichterstattung über Abweichung der Wiederherstellung von Normalität und der Bestätigung des status quo zu dienen5.

Berichterstattung über Kriminalität ist aber nicht objektiv6. Selbst wenn die Berichterstattung im jeweiligen Einzelfall alle Fakten objektiv wiedergeben würde, so entspräche doch die Darstellung der gesamtgesellschaftlichen Kriminalität nicht der Realität. Die Medien sind gezwungen, aus der enormen Vielzahl von Informationen auszuwählen, was der Leser erfährt und was ihm verschwiegen wird. Mangelnde Objektivität resultiert damit insbesondere aus der Selektivität der Informationswiedergabe7.

Im Mittelpunkt "öffentlicher Kriminalität" stehen ausgewählte Einzelfälle. Die Selektion erfolgt unter dem Gesichtspunkt einer Eskalationsneugier, die ständig nach neuen Gefahren und neuen Qualitäten der Bedrohung sucht, während deeskalierende Erscheinungen unbeachtet bleiben8. Über allem steht der Zug zum Sensationellen. Dementsprechend konzentrieren sich die Medien auf die Gewaltkriminalität. Der soziale Zusammenhang wird selten thematisiert. Die komplexe Realität wird vielmehr auf den einfachen Nenner "Gut" oder "Böse" gebracht. Der Straftäter erscheint als der grundlegend Andere, der Außenseiter, Gegner, gar als der Feind des normalen Bürgers9.

Durch einseitige, verzerrende Darstellungen entsteht in der Öffentlichkeit ein falsches, dramatisiertes, realitätsfernes und klischeehaftes Bild von der Kriminalität und deren Bekämpfung. Häufige Berichterstattung über spezifische Delikte vermittelt den Eindruck stark zunehmender Kriminalitätsraten, führt zu großer Fehleinschätzung und erzeugt überzogene Angstgefühle vor Gewaltkriminalität. Doch auch sachliche Darstellungen mit Tatsachen ohne Hintergrund und Verbrechensstatistiken ohne Angabe der Basiszahlen und Aufschlüsselung der Zunahme nach Delikten suggerieren ein bedrohliches Bild des Verbrechens10.

Die These, daß die Mediendarstellung von Kriminalität und Kriminaljustiz Konsequenzen in der sozialen und persönlichen Realität haben kann, könnte durch verschiedene Medien-Wirkungstheorien (z. B. "Katharsistheorie", "Stimulationstheorie", "Habitualisierungstheorie", "Anomietheorie") begründet werden11. Die umfangreichen internationalen Massenmedienforschungen zeigen allerdings, daß kausale Wirkungen nicht nachzuweisen sind. Vielmehr spielen die Prädispositionen des Rezipienten und dessen Selektionsmechanismen eine entscheidende Rolle, so daß der Art und dem Umfang der Berichterstattung z. B. auch über Kriminalität (wenn überhaupt) nur sekundäre Bedeutung zukommt12. Zudem kann davon ausgegangen werden, daß Gewalt- bzw. Kriminalitätsberichte weder in der Lage sind, zur Etablierung ganz neuer Einstellungsmuster zu führen, als vielmehr bestehende Einstellungsmuster zu aktualisieren oder zu reproduzieren. Im Hinblick auf die ideologische Funktion von Gewaltberichten kann von der sog. agenda-setting-Funktion der Medien gesprochen werden. Demnach gelingt es, ein Thema auf die Tagesordnung des öffentlichen Redens zu setzen, es wird erreicht, daß es behandelt wird, ohne aber den Lesern aufzuzwingen, was darüber geredet wird13. Die massenmediale Kriminalberichterstattung und die öffentliche Meinung sind folglich keine Synonyme.

Unter öffentlicher Meinung wird einmal sozialpsychologisch (qualitativ) die Gruppenmeinung verstanden, zum zweiten aber auch eher quantitativ die durchschnittliche, über besondere Instrumente repräsentativ erfaßte Meinung aller Bürger (veröffentlichte Meinung). Die so definierte öffentliche Meinung bildet die "politische Basiskommunikation", die deshalb von Bedeutung ist, weil die demokratische Herrschaft durch Wahlen berufen wird und auf einen Konsens der Bevölkerung angewiesen ist. Die öffentliche Meinung legitimiert die legale Herrschaft. Deshalb ist die jeweilige Herrschaft bestrebt, sich Konsens als "Einverständnis und Zustimmung zu bestimmten Inhalten" zu sichern14.

Trotz der Unklarheit, ob die Berichterstattung über Kriminalität in den Massenmedien "Wirkungen" beim Rezipienten hervorruft15, üben sie in einer Demokratie immerhin einen gegenseitigen Einfluß aus; sie integrieren ständig, weil Politiker ihre Entscheidungen gern nach der veröffentlichten Meinung richten.

Die Massenmedien spiegeln darum in einer Demokratie nicht nur den sozialen Prozeß wider, über den sie berichten. Sie greifen vielmehr selbst in den Sozialprozeß ein, indem sie Reaktionen auf ihre Nachrichten erzeugen und darüber berichten16. Ihre Wirkung beruht dabei auf der sozialpsychologischen Tatsache, daß "die richtige" Meinung die Meinung der Mehrheit ist und die vereinzelten Individuen ihr Urteil an der zunächst nur vermeintlichen, später aber tatsächlichen Mehrheitsmeinung orientieren17.

Daß Massenmedien nur üblicherweise eine konservative, den status quo erhaltende Rolle spielen, heißt, daß sie zeitweilig auch leider ganz anders wirken. Sie können zu bestimmten Anlässen regelrecht Feldzüge entfachen, deren Ziel es ist, feindliche Einstellungen gegen bestimmte Gruppen zu mobilisieren, um dadurch Unterstützung für bestimmte Absichten zu gewinnen. Diese Prozesse wurden unter verschiedenen Bezeichnungen analysiert, z. B. "moral enterprise", "moral-panics" und schließlich unter der bekannten Bezeichnung "law and order campaigns". Dieses letzte Konzept hat die größte gesellschaftliche Tragweite, weil hier nicht selten in der...

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