Die Entwicklung der lettischen Rechtssprache nach der Gründung der Republik Lettland am Beispiel von juristischen Fachzeitschriften

AuthorSanita Osipova
PositionProf. Dr. iur. Universität Lettlands, Riga
Pages69-76

Die Jurisprudenz auf dem Gebiet des heutigen Lettland ist von ihren ersten Anfängen an multikulturell ausgerichtet gewesen. Unsere Rechtskultur wurde von deutschen, russischen, lettischen und hebräischen Juristen gemeinsam entwickelt. Leider ist diese Zusammenarbeit unterschiedlichen Nationen angehörender Juristen nicht immer harmonisch verlaufen. Es herrschte unter ihnen auch eine gewisse Konkurrenz, die sich auf nationale und andere Interessen stützte. Eine Erklärung hierfür liegt in der Rechtsgeschichte Lettlands.

1. Nationale Sprache, Staatssprache, Rechtssprache - Lettisch

Die deutschen Juristen haben in der Entwicklung in Lettland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, sogar bis zur Gründung der Lettischen Republik im Jahre 1918 dominiert. Ein Beweis dafür ist die bemerkenswerte Reihe hervorragender deutschbaltischer Juristen und Wissenschaftler, die in Lettland im Laufe des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (bis zu der deutschen Repatriierung im Jahre 1939) gewirkt haben. Viele von ihnen haben später im Exil ihre in Lettland begonnene Tätigkeit fortgesetzt, das Recht der Republik Lettland und der Lettischen SSR erforscht und wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht1. Diese Juristen sind in der deutschen Rechtstradition weithin bekannt, denn ihre Aufsätze haben sie in der deutschen Sprache und in der deutschen Fachpresse veröffentlicht, ihre Bücher wurden teilweise von deutschen Verlagen herausgegeben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als das russische Imperium mit der Verwirklichung der Russifizierungspolitik begann, war die deutsche Sprache auf dem Gebiet des heutigen Lettlands, ähnlich wie in Estland, die Sprache des Rechts und der juristischen Ausbildung, denn die Rechtswissenschaft konnten die Letten nur an der Universität Tartu (Dorpat) in der deutschen Sprache studieren.

Eine Änderung der Situation ergab sich Ende des 19. Jahrhunderts, als die deutsche Sprache zielstrebig dank einer bewussten Politik des russischen Imperiums, die von Alexander III. in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts initiiert wurde, einer Konkurrenz seitens der russischen Sprache ausgesetzt wurde. Diese Politik implizierte auch eine Stärkung des orthodoxen Glaubens und eine Eingrenzung der Rechte der ethnischen Minderheiten2. So schreibt Michail Geller: „Durch den Grafen Tolstoi wird in den baltischen Provinzen das russische Gerichtssystem eingeführt, wobei die örtlichen Gerichte aufgehoben werden, wobei in der Verwaltung und den Schulen eine verstärkte Russifizierungspolitik betrieben wird, die sich zum Ziel gesetzt hat, alles ‚Deutsche‘, etwa die Privilegien des deutschen Adels und der baltischen Freiherren, zu bekämpfen." 3

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begaben sich die Letten zum Studium der Rechtswissenschaft nicht mehr nur nach Tartu, sondern in immer größerer Anzahl auch nach Moskau und St. Petersburg. Die russische Sprache wurde - parallel zum Deutschen - zur Sprache der gebildeten lettischen Intelligenz. Die Angehörigen der lettischen Intelligenz teilten sich je nach ihren politischen Ansichten in zwei Lager, die entweder die russische oder die deutsche Sprache und Kultur für wichtiger für die Letten hielten. Diese zur Zeit des Jahrhundertwechsels entstandene Situation blieb weitgehend auch nach der Gründung der Republik Lettland bestehen. Nach 1918, als sich die Republik Lettland als Nationalstaat gründete, wurde aber neben der deutschen und der russischen Sprache auch die lettische Sprache im juristischen Bereich angewandt. Als sich die nationale Staatlichkeit stärker durchsetzte und die juristische Ausbildung an der neugegründeten nationalen Universität - der Hochschule Lettlands (Latvijas Augstskola), die ab 1923 den Namen „Universität Lettlands" trägt, - eingeführt war, wurde die lettische Sprache bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs allmählich und zielorientiert zur führenden Rechtssprache fortentwickelt, auch wenn dazu ganz unterschiedliche Schwierigkeiten überwunden werden mussten4. Einen Beitrag zur Entwicklung und Stärkung der lettischen Rechtssprache haben auch Juristen anderer Nationen und mit anderem sprachlichen Hintergrund geleistet.

Multikulturelle Nation ist ein Wert des heutigen Zeitalters - Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Werte zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren andere. Die Menschen waren stolz auf ihre nationale Zugehörigkeit. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden nationale Vereine gegründet, worauf Anfang des 20. Jahrhunderts die Gründung von Nationalstaaten folgte, in denen das Nationalbewusstsein, der Wert der Nationalkultur und die Bedeutung und Eigenart der nationalen Jurisprudenz betont wurden. Nach der Gründung von Nationalstaaten wurden in diesen Staaten nationale Hochschulen gegründet. So hat es beispielsweise in Lettland im Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen neben der ‚lettisch ausgerichteten‘ Universität Lettlands auch die in 1921 gegründete Russische Universität 5 sowie das deutsche Herder-Institut 6 gegeben.

Das Herzstück einer Nation ist ihre Sprache. Die lettische Sprache und der Status der lettischen Sprache waren Gegenstand der Sorge der lettischen Nation im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts, bis an dessen Ende, nachdem der Republik Lettland wieder ihre Unabhängigkeit erlangt hatte und der Status des Lettischen als Staatssprache in der Verfassung verankert wurde7. Doch ist die Lebensfähigkeit einer Sprache nicht durch ein konstitutionell garantiertes Recht oder Status gegeben. Eine Sprache muss benutzt werden, sie muss lebendig und umfassend einsetzbar sein, damit man mit ihr die bestehende Realität erfassen und wissenschaftliche Erkenntnisse formulieren kann. Die Entwicklung eines Staates und einer Nation hängt auch davon ab, ob ein voller Ausbildungszyklus in der Nationalsprache möglich ist und ob in Verwendung dieser Sprache die Entwicklung aller wissenschaftlichen Disziplinen möglich ist. Aus diesem Grund wurde der 1919 gegründeten Hochschule Lettlands (heute Universität Lettlands) seitens des Staates eine besondere Bedeutung beigemessen und große Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Einrichtung bot zum ersten Mal die Möglichkeit, akademische Ausbildung in der lettischen Sprache zu erwerben. Dies betont insbesondere die Verfassung der Universität Lettlands von 1923. In Artikel 3 wird festgelegt: „Die Unterrichtssprache der Universität Lettlands ist die lettische Sprache. In einzelnen Fällen kann das Dozieren auch in anderen Sprachen erfolgen, jedoch nur mit besonderer Genehmigung des Universitätsrats." 8 In der Praxis zeigte sich jedoch, dass im Verlauf der ersten Jahrzehnte solche „einzelnen Fälle" in beinahe allen Fakultäten vorkamen, und in einigen Disziplinen (Ingenieurwissenschaften und Physik) überwiegen sie sogar. Das lag einerseits an den mangelnden Lettischkenntnissen bei einem Teil der Lehrkräfte, andererseits - und zwar nicht weniger - an der Unvollständigkeit der lettischen Wissenschaftssprache, einschließlich der Rechtssprache. Aus diesem Grund möchte ich die juristische Fachpresse der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts insbesondere aus sprachlicher Perspektive beleuchten.

2. Fachzeitschriften der 1920er und 1930er Jahre

Der multinationale Charakter der damaligen Rechtskultur zeigt sich sehr eindrucksvoll an den Fachzeitschriften der 1920er und 1930er Jahre. Die juristische Fachpresse war in jener Zeit genauso multinational wie die Gemeinschaft der Juristen selbst. Die wichtigsten juristischen Zeitschriften waren in diesem Zeitraum das vom lettischen Staat herausgegebene Amtsblatt des Justizministeriums der Republik Lettland sowie eine Reihe von Zeitschriften, die von juristischen Vereinen herausgegeben wurden, nämlich die deutschsprachige Rigasche Zeitschrift für Rechtswissenschaft des Deutschen Juristenvereins in Riga, die russischsprachige Zakon i sud (Gesetz und Gericht) 9 des Russischen Juristenvereins und lettische Jurists (Der Jurist) des Vereins für die Förderung der Zivilrechtswissenschaft Aequitas. Es ist bemerkenswert, dass die drei letzten Zeitschriften eine sehr ähnliche Lebensdauer gehabt haben. Die ersten Ausgaben sind zwischen 1926 und 1929 erschienen und das Ende des Erscheinens lag zwischen 1938 und 1940.

2.1. Rigasche Zeitschrift für Rechtswissenschaft

Am bekanntesten außerhalb der Grenzen Lettlands ist die von dem Deutschen Juristenverein in Riga im Zeitraum 1926 bis 1939 herausgegebene Rigasche Zeitschrift für Rechtswissenschaft. Dank der Initiative des deutschbaltischen Juristen Dr. iur. Dr. h.c. Dietrich André Loeber (1923-2004) 10 ist im Jahre 2002 eine Faksimileausgabe dieser Zeitschrift erschienen11. Professor Loeber hat damit einen unschätzbaren Beitrag zur Erforschung, Erschließung und Popularisierung des lettischen juristischen Erbes aus der Epoche zwischen der zwei Weltkriegen geleistet. Dank seiner Initiative und Unterstützung wurden nicht nur die bereits erwähnte Zeitschrift des Deutschen Juristenvereines in Riga, sondern auch das Amtsblatt des Justizministeriums der Republik Lettland sowie die russischsprachige Zeitschrift Zakon i sud im Faksimile herausgegeben12.

Die deutschsprachige Rigasche Zeitschrift für Rechtswissenschaft gilt deshalb als bedeutsam, weil die Verfasser der hier veröffentlichten Aufsätze ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Vervollständigung der bestehenden Rechtsordnung, Änderungen und Ergänzungen bestehender Normen sowie auf...

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