Freiheitsstrafe und Gefängnissystem in Deutschland

AuthorChristoph Flügge
Pages43-46

Christoph Flügge

Freiheitsstrafe und Gefängnissystem in Deutschland

Mit großem Interesse habe ich Ihr neues, gerade am 1. September 2002 in Kraft getretenes Strafgesetzbuch gelesen. Ich freue mich über die Gelegenheit, heute mit Ihnen über das Sanktionenrecht der Freiheitsstrafe und das Gefängnissystem in unseren verschiedenen Ländern diskutieren zu können. Denn die Grundprinzipien des Sanktionenrechts - insbesondere auch was die Verhängung von Freiheitsstrafen betrifft - weichen in den europäischen Ländern erheblich voneinander ab.

In Deutschland gehen wir davon aus, dass Freiheitsstrafe das letzte Mittel - die ultima ratio - sein soll. So hat sich in Deutschland in den Jahren zwischen 1882 und 1997 das Verhältnis von verhängten Freiheitsstrafen und Geldstrafen im Ergebnis umgekehrt. 1882 waren noch 76,8% aller verhängter Strafen Freiheitsstrafen. 1997 waren dagegen 81,7% aller verhängten Strafen Geldstrafen1. Von den insgesamt 18,3% verhängten Freiheitsstrafen wurden 12,6% zur Bewährung ausgesetzt, so dass tatsächlich lediglich 5,7% der Freiheitsstrafen zu verbüßen waren. In den letzten Jahren ist allerdings eine leicht gegenläufige Tendenz festzustellen. So hat das am 1. April 1998 in Kraft getretene 6. Strafrechtsreformgesetz tendenziell zu einer Erhöhung der Strafrahmen geführt2. Auf das Verhältnis von Freiheitsstrafe und Geldstrafe hatte dies aber wenn überhaupt nur geringfügige Auswirkungen. So waren in Berlin im Jahr 1991 17% aller Strafen Freiheitsstrafen; im Jahr 2001 19,8% bei zwischenzeitlichen Schwankungen in diesem Bereich ohne deutliche Tendenz3.

Ein weiteres Grundprinzip des deutschen Straffolgenrechts ist, dass eine kurze Freiheitsstrafe von unter sechs Monaten nur in Ausnahmefällen verhängt werden soll, nämlich wenn besondere Umstände die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen, § 47 Abs. 1 StGB. In Deutschland gehen wir davon aus, dass eine kurze Freiheitsstrafe mehr schadet als nützt. Dies geht auf Franz von Liszt und seine Arbeiten aus dem Jahre 1883 zurück4. Nach dieser - in Deutschland seither herrschenden Auffassung - ist eine kurze Freiheitsstrafe schädlich, weil der Täter aus seinem Umfeld gerissen wird, ggf. seine Arbeit verliert, in schädlichen Kontakt mit anderen Gefangenen gerät und zusätzlich wegen der Kürze der Dauer der Freiheitsstrafe auf ihn praktisch keine Einwirkungsmöglichkeit besteht. In Deutschland herrscht deshalb seit Jahren das Bestreben vor, kurze Freiheitsstrafen zurückzudrängen.

Dies wird indes in anderen europäischen Ländern grundsätzlich anders gesehen. Dort wird teilweise verstärkt versucht, über die Schockwirkung einer kurzen Freiheitsstrafe spezialpräventive Ergebnisse zu erzielen. Beispielsweise waren 1995 in den Niederlanden 79% aller Freiheitsstrafen kurz5 gleichfalls im Jahr 1992 in der Schweiz 79,6%, in Dänemark 77,3% und in Norwegen 75,2%6.

Allerdings sind in Deutschland in der Praxis trotz des großen Bemühens um die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe ein relativ großer Prozentsatz aller Freiheitsstrafen kurze Freiheitsstrafen unter sechs Monaten. In Berlin waren es im Jahr 2001 32,54%7. Hinzu kommen zusätzlich die Ersatzfreiheitsstrafen, die verbüßt werden müssen, wenn eine Geldstrafe nicht bezahlt wird.

Vor diesem Hintergrund gibt es zur Zeit in Deutschland Reformbestrebungen. Weil davon auszugehen ist, dass die Verbüßung einer kurzen Freiheitsstrafe wenig sinnvoll ist, aber relativ hohe Haftkosten8 verursacht, hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf9 im deutschen Bundestag eingebracht, der bei uneinbringlichen Geldstrafen die gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzsanktion vorsieht. Der Gesetzentwurf wird zur Zeit in den Ausschüssen beraten.

Mit Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass auch nach dem neuen Estnischen Strafgesetzbuch die Möglichkeit der Ersetzung von Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren durch gemeinnützige Arbeit gegeben ist, wobei ein Tag Freiheitsstrafe vier Stunden gemeinnütziger Arbeit entspricht, die auch abends abgeleistet werden können10. Es interessiert mich sehr, von Ihnen die Hintergründe dieser Regelung zu erfahren und ebenfalls, wie die Vorschrift ausgelegt wird und welche Erfahrungen Sie damit in Zukunft...

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