Die Zukunft des Völkerrechts

AuthorChristian Tomuschat
Pages3-15
3
JURIDICA INTERNATIONAL 26/2017
https://doi.org/10.12697/JI.2017.26.01
Christian Tomuschat
Professor emeritus
Humboldt University
Die Zukunft
des Völkerrechts
I. Vorbemerkung
Das Völkerrecht unserer Tage hat einen hohen Entwicklungsstand erreicht. Als Netz normativer Leitaus-
sagen verbindet es nicht nur die Staaten des Erdballs miteinander, sondern hat seinen Geltungsanspruch
gleichzeitig stark über den ursprünglichen Adressatenkreis hinaus ausgeweitet. Völkerrechtliche Regeln
richten sich auch an internationale Organisationen, statten Einzelpersonen mit Rechten aus oder erlegen
ihnen Pf‌l ichten auf und dringen teilweise auch in die Privatrechtsordnung ein. Auch inhaltlich hat das
Völkerrecht seit der Gründung der Vereinten Nationen eine neue Qualität gewonnen. War es zunächst den
historischen Zufälligkeiten folgend ohne systematischen Bauplan über Jahrhunderte hinweg bruchstück-
haft gewachsen, hat es seit dem Jahre 1945 Leitprinzipien gewonnen, die fundamentalen menschlichen
Bedürfnissen Rechnung tragen. Frieden und Menschenrechte sind mit der UN-Charta (im Folgenden:
Charta) ins Zentrum der völkerrechtlichen Ordnung gerückt.
Viele der rechtlichen Konzepte und Institutionen der Gegenwart lassen sich als unmittelbare Ableitungen
aus diesen Grunddaten des internationalen Systems ableiten. Kriegs- und Interventionsverbot dienen unmit-
telbar der Sicherung des Friedens, das Selbstbestimmungsrecht erlaubt es jedem Volke, seine eigenen Ziel-
vorstellungen in friedlicher Weise zu verwirklichen, und die Menschenrechte sollen nicht nur jeder mensch-
lichen Person ein Leben in Würde und Sicherheit gewährleisten, sondern gleichzeitig auch sicherstellen,
dass nicht innerstaatliche Auseinandersetzungen gewaltsam auf die internationale Ebene durchschlagen.
Insgesamt hat das Völkerrecht in hohem Maße Wertvorstellungen aufgenommen, die von den Völkern der
Welt weithin geteilt werden. Eine Grundsatzkritik an der bestehenden völkerrechtlichen Ordnung wird nur
noch von vereinzelten Kreisen geäußert. Vor allem ein der Geschichte geschuldeter struktureller Mangel ist
mittlerweile behoben worden.*1 Nachdem der Prozess der Dekolonisierung seinen Abschluss gefunden hat,
haben die früheren Kolonialvölker sich mit großer Hingabe an dem Prozess der Sichtung und Überprüfung
des Völkerrechts beteiligt und auf diese Weise seine früheren Einseitigkeiten beseitigt.*2
So ist mittlerweile ein Normengerüst entstanden, das trotz seiner Auf‌f ächerung in viele Spezialdiszipli-
nen als eine geschlossene systematische Einheit betrachtet werden darf. Über viele Jahre hinweg hat das
Gerede über die Fragmentierung des Völkerrechts die literarischen Debatten beherrscht*3 – doch prinzipiell
Die von den Anhängern der Third World Approaches to International Law (TWAIL) geäußerte Kritik, vgl. etwa B.S. Chimni,
‘Critical Theory of Economic Law: a Third World Approach to International Law (TWAIL) Perspective‘; in: John Linarelli
(ed.), Research Handbook on Global Justice and International Economic Law (Cheltenham, UK: Edward Elgar, ) -
), hat sich mittlerweile überlebt und wird nur noch ideologisch gestützt.
Eines der Vehikel dieses tiefgreifenden Wandels ist bis zum heutigen Tage die UN-Völkerrechtskommission (International
Law Commission, ILC), ein Unterorgan der UN-Generalversammlung (GV).
S. dazu den Bericht der Studiengruppe der Völkerrechtskommission, Yearbook of the International Law Commission ,
Vol. II Part Two, UN-Dok. A/CN./SER.A//Add. (Part ), .

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