Der moderne Staat. Ein Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus

AuthorRüdiger Voigt
Pages5-20
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JURIDICA INTERNATIONAL 21/2014
Rüdiger Voigt
Prof. Dr.
Der moderne Staat
Ein Glanzstück europäischer Form
und occidentalen Rationalismus
Carl Schmitt, der brillanteste, zugleich aber auch der umstrittenste Staatsdenker der Weimarer Republik,
hat bereits 1963 das Ende der Epoche der Staatlichkeit verkündet. Im Vorwort zum Neudruck seiner weit-
hin bekannten Schrift „Der Begriff des Politischen” von 1932 stellt er fest:*1 „Der Staat als das Modell der
politischen Einheit, der Staat als Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich der politischen Ent-
scheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront”.
Tatsächlich hätte ihm bis zum Beginn der 1990er Jahre kaum jemand widersprochen. Der Staat schien
seine Schuldigkeit getan zu haben. Es war Zeit für ihn, zu Gunsten internationaler Organisationen, supra-
nationaler Gemeinschaften und transnationaler Kartelle zurückzutreten. Im Zeichen des Neoliberalismus
haben vor allem die europäischen Regierungen buchstäblich Alles getan, um dieses Ziel zu verwirklichen.
Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung und dem Terroranschlag des 11. September 2001 hat sich das Bild
freilich drastisch verändert. Wie Phönix aus der Asche ist der Staat wieder auferstanden und ins Zentrum
des Geschehens zurückgekehrt, wenn nicht in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, so doch in der Sicher-
heitspolitik. Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch: Ohne einen funktionsfähigen Staat sind die Men-
schen hilf‌l os anonymen Kräften ausgeliefert, denen sie nichts entgegenzusetzen haben. Gleichzeitig ist der
Staat selbst jedoch auf dem Weg dazu, im Zuge des globalen Kampfes gegen den Terrorismus zum „Großen
Bruder”, zum Orwellschen Überwachungsstaat zu werden. Das neue Schlüsselwort dazu ist PRISM, ein Pro-
gramm des US-Geheimdienstes NSA zur weltweiten Datenerfassung und -verarbeitung. Es ist sicher kein
Zufall, dass das Buch „1984“ von George Orwell,*2 in dem dieser eine Überwachungs-Diktatur schildert, in
der Amazon-Liste der meistverkauften Bücher in Großbritannien auf Platz 42 steht.
Was ist der moderne Staat?
Was haben wir uns unter dem „modernen Staat” vorzustellen, wenn wir die Orwellsche Horrorvision ein-
mal für einen Moment ausblenden? Das Bild des modernen Staates ist auch dann janusköpf‌i g.*3 Der Staat
setzt einseitig Recht, er erhebt einseitig Steuern, er vergibt einseitig Leistungen. Gleichzeitig ist der Staat
aber auch ein Gemeinwesen („res publica”), das durch den gegenseitigen Willen seiner Bürger und Bürge-
rinnen konstituiert und von diesem gegenseitigen Willen getragen wird. Im Folgenden will ich den moder-
nen Staat aus der Perspektive einiger bedeutender Staatsphilosophen beleuchten. Staatsdenker stellen ihre
Überlegungen regelmäßig vor dem Hintergrund des Staates an, in dem sie leben. Oft konfrontieren sie
1 C. Schmitt. Der Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot 1963.
2 G. Orwell. 1984. Berlin: Propyläen 1994.
3 R. Voigt. Der Januskopf des Staates. Warum wir auf den Staat nicht verzichten können. Stuttgart: Steiner 2009.
http://dx.doi.org/10.12697/JI.2014.21.01
Rüdiger Voigt
Der moderne Staat
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diesen Staat mit dem Idealbild eines vergangenen Staates („Goldenes Zeitalter”) oder berufen sich auf in
die Zukunft gerichtete Staatsutopien. Zwar wird selten ein Staat gegründet, der dem erdachten Staatsideal
genau entspricht, oft gehen von einem Staatsmodell aber wichtige Impulse aus. Rousseau und Locke sind
prominente Beispiele für eine solche Wirkung.
Liest man die Werke großer Staatsdenker wie z.B. Machiavelli, Bodin, Hobbes und Locke, dann zeigt
sich, dass diese bereits in der frühen Neuzeit einen Kernbestand an Staatlichkeit herausgearbeitet haben,
der für ein halbes Jahrtausend das Selbstverständnis der europäischen Staaten bestimmt hat. Montesquieu,
Rousseau, Kant, Hegel, Marx, Jellinek, Max Weber, Habermas, Foucault und Agamben haben dieses Staats-
denken – trotz z.T. gravierender Widersprüche – kontinuierlich weiterentwickelt.*4 Moderne Staatlichkeit
ist danach durch fünf Hauptmerkmale gekennzeichnet:
Intensität der Staatswirksamkeit;
Rationalität der Staatsstruktur;
Trennung des Rechts von Sitte und Religion;
unbedingte Sicherung des innerstaatlichen Friedens;
eine an formalem Recht geschulte Beamtenhierarchie.
In einem langwierigen Prozess werden die Ordnungsfunktionen, die zunächst in der Hand lokaler Herr-
scher liegen, monopolisiert, zentralisiert und verstaatlicht. Herrschaft bedeutet dabei im Alltag vor allem
Verwaltung („Policey”).
Wiedergeburt antiker Staatskunst
Um der Genese dieses Staates nachzugehen, möchte ich Sie zunächst in eine Zeit zurückversetzen, die fast
ein halbes Jahrtausend zurückliegt. Es ist die Renaissance, jene bunt schillernde große Zeit eines Leonardo
da Vinci oder eines Michelangelo, um nur einige wenige Namen zu nennen. Es ist aber auch eine Zeit des
Umbruchs, des „Zerbrechens der Zeit“, wie René König es im Schweizer Exil genannt hat.*5 Überkommenes
Denken wird beiseitegeschoben; unter Rückgriff auf die Vorbilder der Antike tritt jetzt ein neues Denken
zutage, das mehr ist, als eine bloße Modeerscheinung. Es ist vielmehr eine wahre Wiedergeburt. Mit Beginn
der Neuzeit schwindet die Bedeutung des christlichen Menschenbildes in der Staatsphilosophie. An seine
Stelle tritt in der Renaissance ein starkes Interesse an den Handlungsmotiven, Leidenschaften, Tugenden,
aber auch an den Lastern der Menschen. Es ist die Stunde des anthropologischen Realismus. Willensstarke
Persönlichkeiten, sog. Renaissance-Menschen wie Cesare Borgia, beherrschen das Geschehen.
Zwar klingt die Einschätzung der Renaissance durch Friedrich Nietzsche in unseren Ohren ein wenig zu
euphorisch: „Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der
Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Ent-
fesselung des Individuums, eine Glut der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und bloßen Effekt”.*6
Den inneren Kern dieses neuen Zeitalters trifft Nietzsche damit aber durchaus. Die „Begleiterschei-
nungen“ dieser Zeit – Intrigen, Betrug, Landraub bis hin zu Mord und Totschlag – schrecken den radikalen
Philosophen ohnehin nicht.
Machiavellis Machtstaat
Nietzsche fühlt sich geradezu als „Seelenverwandter” des Florentiner Staatsdenkers Niccoló Machiavelli
(1469–1527), dessen Name zum Inbegriff des rücksichtslosen Machtgebrauchs durch die Herrschenden
geworden ist. Florenz ist zu dieser Zeit nicht nur der „erste moderne Staat der Welt”, wie Jacob Burck-
hardt festgestellt hat, sondern Machiavelli ist auch der erste Protagonist des modernen Staates. Für Machi-
avelli ist die Renaissance in erster Linie eine Wiedergeburt der antiken Staatskunst. Er ist der Erste, der zu
Beginn der Neuzeit eine Kunstlehre des Erwerbs und der Erhaltung der Macht entwickelt hat. Machiavelli
kann also durchaus als Wegbereiter des modernen Territorialstaates gelten. In seinem Buch Machtstaat
4 R. Voigt (3. Auf‌l age). Den Staat denken. Der Leviathan im Zeichen der Krise. Baden-Baden: Nomos 2014.
5 R. König. Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende. Erlenbach/Zürich: Rentsch 1941.
6 F. Nietzsche (Hrsg. von K. Schlechta) Werke in drei Bänden. München: Hanser 1956.

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