Aktuelle Probleme rechtsstaatlicher Strafgesetzgebung

AuthorHans Joachim Hirsch
Pages4-10

Hans Joachim Hirsch

Aktuelle Probleme rechtsstaatlicher Strafgesetzgebung

Die erfolgte estnische Strafrechtsreform ist Anlaß dieser Tagung. Ich möchte zu dem neuen Strafgesetzbuch aufrichtig gratulieren. Es ist eine wirklich bemerkenswerte Leistung, wenn sich ein Staat von der Größe Estlands aus eigener Kraft ein neues, eigenständiges Strafgesetzbuch erarbeitet. Kodifikationen des Strafrechts sind Wegmarken in der Entwicklung der Völker. Ich nenne nur die Carolina und den Code Napoleon. Das neue estnische Strafgesetzbuch markiert die Wende von einem kollektivistisch, repressiven Strafrecht zu einem das Individuum respektierenden humanen Strafrecht. Gleichzeitig ist es ein Symbol der wiedererlangten staatlichen Selbständigkeit.

1. Der Rechtsstaatsgedanke als Ausgangspunkt

Nach heutigem Verfassungsverständnis bedeutet Rechtsstaat allgemein die Ausübung staatlicher Macht auf der Grundlage von verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit1. Der Rechtsstaatsgedanke ist nicht nur im Verfassungsrecht verankert, sondern findet auch in Vorschriften der Strafgesetzbücher unter Teilaspekten besondere Erwähnung. So wird das Gesetzlichkeitsprinzip regelmäßig ausdrücklich hervorgehoben. Andere rechtsstaatliche Grundprinzipien wie der Tatgrundsatz und das Koinzidenzprinzip werden im Zusammenhang mit diese betreffenden Regelungen genannt. Einige Strafgesetzbücher erwähnen auch ausdrücklich den Schuldgrundsatz.

Betrachtet man in grundsätzlich rechtsstaatlichen Rechtsordnungen die Einhaltung der rechtsstaatlichen Erfordernisse bei den strafrechtlichen Einzelvorschriften, so fällt einem auf, daß die heutigen Gesetzgeber Schwierigkeiten haben, sie strikt zu wahren. Neue Erscheinungsformen und veränderte Bewertungen sozial abweichenden Verhaltens, vor allem aber die starke Zunahme der Kriminalität und das gestörte Sicherheitsgefühl der Gesellschaft veranlassen die Gesetzgeber dazu, fortwährend strafrechtlich tätig zu werden. Und die rechtsstaatlichen strafrechtlichen Grundprinzipien werden dabei leicht zum Problem. Der Schwerpunkt meiner Betrachtungen wird bei der neueren deutschen Strafgesetzgebung liegen.

2. Die wesentlichsten Problembereiche
2.1. Neue Tatbestäne

Ein weltweites Phänomen ist gegenwärtig die Schaffung immer neuer Straftatbestände. Es geht dabei um drei sich teilweise überschneidende Erscheinungsformen2: Die einen betreffen Fälle in Bereichen, die durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt neu entstanden sind, wie der Computertechnik, der Atomtechnik und der Gentechnologie. Eine zweite Gruppe hat Handlungsweisen zum Gegenstand, die zum Teil schon bisher im Ordnungswidrigkeitenrecht oder Nebenstrafrecht mit punitiven Sanktionen bedroht waren, aber durch einen Bewertungswandel stärker ins Blickfeld traten und mit der Aufnahme ins Strafgesetzbuch eine Aufwertung und Verschärfung sowie eine Ausdehnung, namentlich ins Vorfeld, erfahren haben. Hierher gehören vor allem das Umweltstrafrecht und das Wirtschaftsstrafrecht. Bei der dritten Gruppe schließlich geht es um Bereiche, in denen ein bereits strafbares Verhalten stark angestiegen ist und dieses tatsächliche Anwachsen der Delinquenz und ihrer Erscheinungsformen zu Vorverlegungen und Verschärfungen der Strafbarkeit Anlaß gegeben hat. Zu nennen sind die Drogenkriminalität und allgemein die Organisierte Kriminalität.

Die ständige Zunahme neuer Strafbestimmungen, zumal solcher, die Handlungen im Vorfeld von Schädigungen betreffen, hat in Deutschland und anderen Staaten eine Grundsatzdebatte darüber ausgelöst, ob die Strafgesetzgebung noch auf dem richtigen Wege ist. Man hat in bezug auf die heutige Situation bereits vom "unmöglichen Zustand" des Strafrechts gesprochen3. Gegenüber der gegenwärtigen Entwicklung wird insbesondere eingewandt, daß sie den Rechtsgutsbegriff auflöse, eine dem Wesen des Strafrechts widersprechende Ausbreitung bloßer abstrakter Gefährlichkeitsdelikte im Strafrecht mit sich brächten und sich über den Subsidiaritätsgedanken hinwegsetzten4.

Was den Rechtsgutsbegriff betrifft, geht es darum, daß immer neue ideelle Rechtsgüter genannt werden, die durch vorverlegte Straftaten verletzt sein sollen. So wird bei der Strafbestimmung des Subventionsbetrugs, die weder das Gelingen einer Irrtumserregung noch den Eintritt eines Vermögensschadens verlangt, in der Störung der Institution des staatlichen Subventionswesens eine Rechtsgutsverletzung gesehen5. Auf solche Weise werden Delikte, die bloße abstrakte Gefährlichkeitsdelikte - hier in bezug auf das Vermögen - sind, zu angeblichen Verletzungsdelikten aufgewertet und damit die Vorverlagerung der Strafbarkeit kaschiert6.

Erkennt man aber, daß es sich in Wahrheit um bloße abstrakte Gefährlichkeitsdelikte handelt, erhebt sich die Frage, ob sie ins Kriminalstrafrecht gehören. Im deutschen Recht, das zwischen Strafrecht, bei dem es sich um Kriminalstrafrecht handeln soll, und Ordnungswidrigkeitenrecht abstuft, geht es darum, inwieweit für sie im Strafrecht Platz ist. Die meisten anderen Rechtsordnungen haben den Ordnungswidrigkeitenbereich als dritte strafrechtliche Deliktskategorie, nämlich den Übertretungen, im Strafrecht behalten. Dort handelt es sich um die Frage, unter welchen Voraussetzungen abstrakte Gefährlichkeitsdelikte bereits in die beiden darüber liegenden, nämlich die kriminalstrafrechtlichen Deliktskategorien (bei uns: Vergehen und Verbrechen) eingestuft werden dürfen. Hinter der aktuellen Einordnungsproblematik steht überall in der neueren Strafgesetzgebung außer der schon angesprochenen Tendenz, Vorfeldhandlungen strafrechtlich höher zu gewichten, das Bemühen, die Beweisanforderungen zu erleichtern. Geht es nur um die Anforderungen eines abstrakten Gefährlichkeitsdelikts, brauchen weder Schadenseintritt oder Kausalität noch der Verletzungsvorsatz nachgewiesen zu werden. Bei einem abstrakten Gefährlichkeitstatbestand sind auch die Voraussetzungen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens geringer, da es eben nicht auf den Anfangsverdacht eines vorsätzlichen Verletzungsdelikts ankommt.

Sicherlich sind diejenigen Kritiker im Unrecht, die behaupten, daß oberhalb der Ordnungswidrigkeiten, Übertretungen oder Verwaltungsdelikte, also im Kriminalstrafrecht, abstrakte Gefährlichkeitstatbestände prinzipiell nichts zu suchen hätten, das Kriminalstrafrecht vielmehr seiner Natur nach auf Verletzungsdelikte beschränkt sei7. Hoch- und Landesverratsdelikte, Brandstiftungs- und Rechtspflegedelikte zeigen nämlich, wie auch die Kritiker letztlich einräumen, daß es abstrakte Gefährlichkeitsdelikte schon immer im Kriminalstrafrecht gegeben hat. Und entgegen der in Deutschland heute von der Frankfurter Richtung8 vertretenen Ansicht ist das Kriminalstrafrecht nicht auf diese traditionellen Bereiche ein für allemal beschränkt, sondern es ist wie die gesamte Rechtsordnung für neuere Entwicklungen offen. An der heutigen Gesetzgebung ist jedoch die Bedenkenlosigkeit fragwürdig, mit der immer neue abstrakte Gefährlichkeitstatbestände im Kriminalstrafrecht geschaffen werden. So ist das Bestreben, die Beweisanforderungen zu vereinfachen, kein ausreichender Grund, die Strafbarkeit auszudehnen oder zu verschärfen9; denn die Strafbarkeit und deren Einstufung haben sich ausschließlich nach der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit einer Tat zu richten.

Aber auch die Einschätzung der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit steht nicht im freien Belieben des Gesetzgebers. Vielmehr ist in allen Rechtsordnungen festzustellen, daß der Bereich der Ordnungswidrigkeiten oder Übertretungen der typische Standort der abstrakten Gefährlichkeitstatbestände ist. Infolgedessen müssen es besondere Gründe des betreffenden Unrechts sein, die eine ausnahmsweise Einordnung im Kriminalstrafrecht sachlich legitimieren. Dabei geht es namentlich um das Ausmaß des drohenden Schadens und die Höhe des betreffenden Risikos. Es muß also rational erklärbar sein, warum das betreffende Verhalten ausnahmsweise aus dem Ordnungswidrigkeiten- oder Übertretungsbereich herausgenommen und dem Kriminalstrafrecht zugewiesen wird.

Das rechtsstaatliche Grundprinzip, das dabei eine Rolle spielt, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Tat, rechtliche Einstufung und Sanktion müssen in angemessenem Verhältnis zueinander stehen10.

Einen Unterfall des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bildet das ultima ratio- oderSubsidiaritäts-Prinzip. Dabei geht es bekanntlich um den Gedanken, daß eine Strafvorschrift erst dann geschaffen werden soll, wenn die Möglichkeiten, die betreffenden Verhaltensweisen bereits in anderen, weniger repressiven Rechtsgebieten angemessen zu regeln, ausgeschöpft sind. Das ultima ratio-Prinzip ist bei der gegenwärtigen Inflation der Strafgesetzgebung am meisten aus dem Blick gekommen. Taucht in der Gesellschaft ein echter oder auch nur vermeintlicher Mißstand auf, wird heute sogleich der Ruf nach dem Strafgesetzgeber erhoben. Und für die...

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