Report zu Melanie Möller 'Beispiel und Ausnahme. Überlegungen zu Ciceros Rechtshermeneutik

AuthorEva Geulen
Pages93-98
ANCILLA IURIS (anci.ch) 2015: 93 – Gesetz - Rhetorik - Gewalt 93
Report zu Melanie Möller „Beispiel und Ausnahme. Überlegungen zu
Ciceros Rechtshermeneutik“
Normative Ordnungen brauchen sowohl Ausnahmen wie Beispiele: Religion (und die
Theologie), das Recht (und die Jurisprudenz), die Erziehung (und die Pädagogik). Schließ-
lich braucht und kennt sie die Rhetorik, die vormals auch die einzige Wissenschaft aller Aus-
nahmen und Beispielen war. Historisch und systematisch sind Beispiele und Ausnahmen in
der Rhetorik gewissermaßen zu Hause; von dort aus fanden sie Eingang in andere norma-
tive Ordnungen und Wissenschaften. Das sind die Fakten. Zur Diskussion steht jedoch:
1. Wie werden Ausnahmen und Beispiele gebraucht? Und damit ist sowohl nach der ope-
rativen Praxis, dem jeweiligen usus und ggf. seinen Regularien, gefragt wie danach, ob
eine Ausnahme von der Regel diese unberührt lässt, sie, wie das Sprichwort will, bestä-
tigt, oder, wie Carl Schmitt es wollte, die Ausnahme die Norm und ihren Geltungsbe-
reich allererst schafft. Dieselbe Frage stellt sich in ähnlicher Form auch beim Beispiel, das
so oder anders – veranschaulichend, deduktiv, induktiv etc. – gebraucht werden kann
und dessen logisches Verhältnis zu den Fällen, für die es steht, ebenso deutungsbedürf-
tig ist wie das Verhältnis der Ausnahme zur Regel. Folglich geht es
2. um die Frage nach dem Verhältnis der Ausnahme zum etymologisch verwandten Bei-
spiel. Frau Möller zufolge bilden Ausnahme und Beispiel in der Rechtsrhetorik ein
„inversives hermeneutisches System“, in dem sie sich „kippfigürlich“ zu einander ver-
halten und sogar ununterscheidbar werden können.
Ich möchte nun in einem ersten Schritt zunächst noch einmal die Ausführungen
zusammenfassen, auch um sicherzustellen, dass ich die Thesen und das Anliegen richtig
verstanden habe, und dabei das markieren, was sich mir noch nicht vollständig erhellt hat.
Wo diese Nachfragen in Kritik oder Widerspruch übergehen, ist vor allem der Status der
Hermeneutik für Recht und forensische Rhetorik betroffen. Dass Recht (auch) hermeneu-
tisch produziert wird, steht außer Zweifel. Aber mir scheint, dass die Insistenz auf der
gleichsam vorgängigen Hermeneutizität von Ausnahme und Beispiel die beiden von Frau
Möller zugeschriebene Störkraft eher hemmt und hegt als fördert und fordert. Um wenigs-
tens schon anzudeuten, wo ich hinwill: Auch wer bei der Ausnahme nicht gleich an Carl
Schmitts Dezisionismus denkt, sondern, sagen wir: an Nietzsche und das von ihm kulti-
vierte „Pathos der Distan z“, wird die Ausnahme mit einer herrischen, gl eichsam aristokrati-
schen Exklusivität assoziieren und nicht mit dem Pl uralität und Gleichberechtigung voraus-
setzenden Deutungsstreit. An dieser Aura des Exklusi ven und dadurch Normativen
partizipierte lange auch das Exemplum qua Autorität und Tradition – mit welch wirkmäch-
tigen Folgen kann man bei Ernst Robert Curtius nachlesen. Nun geht es mir nicht darum –
und es wäre ja auch ganz anachro nistisch – dem Beispiel seine Autorität oder der Ausn ahme
ihre Exklusivität zurückzuerstatten. Aber an dieser Dimension hängt, so meine ich, sehr
direkt die in diesem Workshop verhandelte Frage nach der Gewalt in Rhetorik und Gesetz.
Im Vokabular von Frau Möller ist Gewalt zwar recht präsent – etwa in Gestalt der „aggressi-
ven Komplementrarität von Beispiel und Ausnahme“ oder eben der „Störkraft“–, aber das
Argument und auch das Material deuten eigentlich in eine andere Richtung.
Eva Geulen

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT