Zur Europäisierung des Verwaltungsrechts

AuthorFriedrich Schoch
Pages102-117
102 JURIDICA INTERNATIONAL 21/2014
Friedrich Schoch
Prof. Dr. jur.
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Zur Europäisierung
des Verwaltungsrechts
I. Einführung in die Thematik
Die „Determinanten der modernen Staatsverwaltung” – so die Thematik des V. Abschnitts unseres
Tagungsthemas „Anfänge der modernen Staatsverwaltung” – müssen die europäische Perspektive einbe-
ziehen, wollen sie nicht def‌i zitär sein. Aus juristischer Sicht zwingt dies zu einer Analyse der Europäisierung
der innerstaatlichen Rechtsordnung. Treffend ist dieser (noch lange nicht abgeschlossene) Prozess*1 als ein
„Fundamentalvorgang” charakterisiert worden: die Verwandlung einer autonomen Rechtsordnung in die
Rechtsordnung eines Mitgliedstaates.*2
1. Omnipräsenz des Unionsrechts
Dieser Vorgang ist umfassend angelegt. Er umgreift nicht nur einzelne Rechtsgebiete (z.B. Wettbewerbs-
recht, Verbraucherschutzrecht, Umweltrecht), sondern die gesamte Rechtsordnung (Zivilrecht, Staats- und
Verwaltungsrecht, Strafrecht).*3 Die Europäisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung erfasst zudem
alle Dimensionen des Rechts: Rechtsetzung und Rechtsanwendung sind angesprochen, Gesetzgebung
sowie Verwaltung und Rechtsprechung sind betroffen, Inhalte des Rechts und Methoden des Rechts wer-
den herausgefordert, das Recht als Instrument und das Recht in seinem Selbststand (gegenüber der Politik)
werden aufgerufen, unterschiedliche Rationalitäten im Rechtsverständnis prallen aufeinander.*4
In der Sache konzentrieren sich die nachfolgenden Überlegungen auf das Allgemeine Verwaltungsrecht
sowie auf das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozessrecht. Auf diesen Rechts gebieten las-
sen sich signif‌i kante Europäisierungsmuster nachweisen und bemerkenswerte Eigenrationalitäten des EU-
Rechts aufzeigen. Der Zugriff auf die erwähnten Materien dient zugleich der Begrenzung des Rechtsstoffes
und erleichtert die Verständigung, da Spezif‌i ka des Besonderen Verwaltungsrechts*5 ausgeblendet bleiben.
1 Eine Chronologie der Europäisierung des innerstaatlichen Rechts bietet A. K. Mangold. Gemeinschaftsrecht und deutsches
Recht. Tübingen: Mohr Siebeck 2011, S. 187 ff.
2 R. Wahl. Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte. Berlin: de Gruyter 2006,
S. 94 ff.
3 Überblick dazu bei F. Schoch. Impulse des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die Fortentwicklung der innerstaatlichen
Rechtsordnung. – Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg (VBlBW) 2003, S. 297 ff.
4 Näher dazu U. Mager. Entwicklungslinien des Europäischen Verwaltungsrechts. – P. Axer u.a. (Hrsg.). Das Europäische
Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase. – Die Verwaltung Beiheft 2010/10, S. 11 ff.; W. Kahl. Die Europäisierung des
Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodif‌i kationsidee. – Ibid., S. 39 ff.; O. Lepsius. Hat die Europäi-
sierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: Die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts. – Ibid., S. 179 ff.
5 Umfassende Darstellung einzelner Gebiete des Besonderen Verwaltungsrechts in den Einzelbeiträgen der §§ 16 ff. in
R. Schulze, M. Zuleeg, S. Kadelbach (Hrsg.). Europarecht. 2. Auf‌l . Baden-Baden: Nomos 2010 und in P. Terhechte (Hrsg.).
Verwaltungsrecht der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos 2011.
http://dx.doi.org/10.12697/JI.2014.21.09
Friedrich Schoch
Zur Europäisierung des Verwaltungsrechts
103
JURIDICA INTERNATIONAL 21/2014
2. Begriff und Funktion der „Europäisierung”
Der Begriff „Europäisierung” des Rechts wird hier in einem engen Sinne*6 verstanden und meint den
Prozess fortschreitender Beeinf‌l ussung, Wandlung und Überformung eines Rechtsgebietes durch die
Rechtsmassen des EU-Rechts und durch das in ihnen wirksame Rechtsdenken.*7 Unberücksichtigt bleibt
das Recht der EMRK. Keine Beachtung f‌i nden auch die ebenenübergreifenden Verwaltungsstrukturen
zwischen euro päischen und mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden, wie sie etwa in der gegenseitigen
Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen und dem Handeln der Europäischen Agenturen zum Aus-
druck kommen.*8
Die Konzentration auf die vertikale Perspektive zwischen EU-Recht und mitgliedstaatlichem Recht ist
verschiedentlich als zu eng kritisiert worden. Der Begriff „Europäisierung” müsse auch auf die Rechts-
bildungsprozesse im Unionsrecht erstreckt werden, damit die Einf‌l üsse aus dem mitgliedstaatlichen
Recht in das werdende EU-Recht nicht länger ausgeblendet bleiben.*9 In der Sache muss diesem erwei-
terten Begriffsverständnis nicht widersprochen werden. Der juristische Wert der auf die Überformung des
nationalen Verwaltungsrechts durch das Unionsrecht gerichteten Betrachtungsweise wird, wie zu zeigen
sein wird, durch jenes extensive Begriffsverständnis in keiner Weise geschmälert.
Der hier gewählte Problemzugang f‌i ndet eine sichere Verankerung im positiven Recht. Der Grund-
satz des indirekten Vollzugs von EU-Recht ist mit dem Vertrag von Lissabon im primären Unionsrecht
festgeschrieben worden*10 und besagt, dass mitgliedstaatliche Behörden das Unionsrecht nach Maßgabe
des innerstaatlichen Verwaltungs(verfahrens)rechts zur Anwendung bringen.*11 Im Rechtsschutzverfahren
obliegt die Verwaltungskontrolle dem nationalen Richter, der als „Unionsrichter” fungiert.*12
Grundlage dieses Konzepts ist die Verfahrensautonomie der EU-Mitgliedstaaten. Die Europäische
Union hat, dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verpf‌l ichtet (Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 EUV),
für das Allgemeine Verwaltungsrecht, das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozessrecht
keine generelle Regelungskompetenz. Die Vollzugs- und Kontrollinstrumente in Bezug auf das EU-Recht
sind dem innerstaatlichen Recht zu entnehmen. Gesprochen wird seit jeher von der institutionellen und
verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten.*13
Bei einem solchen Modell sind die Risiken für die einheitliche reale Geltung des Unionsrechts gera-
dezu systemimmanent. Der der Wahrung des Rechts (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) verpf‌l ichtete Europäische
Gerichtshof (EuGH) hat indessen nie einen Zweifel daran gelassen, dass die einheitliche Anwendung des
Unionsrechts ein Grundprinzip der Europäischen Union darstellt.*14 Hierin f‌i ndet die „Europäisierung” der
mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gleichsam ihre Legitimität.
6 Vgl. zu weiteren Europäisierungsbegriffen T. Siegel. Europäisierung des Öffentlichen Rechts. Tübingen: Mohr Siebeck 2012,
Rdn. 71 ff.
7 Im Anschluss an E. Schmidt-Aßmann. Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts. – P. Badura (Hrsg.). Wege
und Verfahren des Verfassungslebens: Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag. München: Beck 1993, S. 513.
8 Dazu E. Schmidt-Aßmann. Perspektiven der Europäisierung des Verwaltungsrechts. – P. Axer u.a. (Hrsg.) (Fn. 4), S. 268 ff.
9 R. Wahl. Europäisierung: Die miteinander verbundenen Entwicklungen von Rechtsordnungen als ganzen. – H.-H. Trute
u.a. (Hrsg.). Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts. Tübingen: Mohr Siebeck 2008, S. 869 ff.;
R. Wahl. Die Rechtsbildung in Europa als Entwicklungslabor. – Juristenzeitung (JZ) 2012, S. 861 ff. – DOI: http://dx.doi.
org/10.1628/002268812802866678.
10 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (konsolidierte Fassung). – Amtsblatt der Europäischen
Union (ABl. EU), 9.5.2008, C 115. Art. 291 Abs. 1: Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen
Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht.
11 C. Haselmann. Delegation und Durchführung gemäß Art. 290 und 291 AEUV. Berlin: Duncker & Humblot 2012, S. 171 ff.
12 Dazu E. Schmidt-Aßmann, W. Schenk. – F. Schoch, J.-P. Schneider, W. Bier (Hrsg.). Verwaltungsgerichtsordnung. München:
Beck (Losebl.-Ausg.), Einleitung (3.2014) Rdn. 109.
13 G. C. Rodríguez Iglesias. Zu den Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des
Gemeinschaftsrechts. – Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 1997, S. 289; S. Kadelbach. Allgemeines Verwal-
tungsrecht unter europäischem Einf‌l uss. Tübingen: Mohr Siebeck 1999, S. 110 ff.; aktuell zu der Thematik C. Krönke. Die
Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 37 ff.
14 Vgl. etwa EuGH, Urteil v. 14.2.2012, C-204/09, Flachglas Torgau vs. Bundesrepublik Deutschland. – Neue Zeitschrift für
Verwaltungsrecht (NVwZ) 2012, 491 Rdn. 37; T. v. Danwitz. Europäisches Verwaltungsrecht. Berlin/Heidelberg: Springer
2008, S. 155 ff.: Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts als „Konstitutionsprinzip” der Rechtsordnung.

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT