Verbrechensbegriff und völkerstrafrechtliche Tatbestände im neuen StGB Estlands

AuthorJörg Arnold
Pages11-15

Jörg Arnold

Verbrechensbegriff und völkerstrafrechtliche Tatbestände im neuen StGB Estlands

Es dürfte unbestritten sein: In Estland ist ein modernes europäisches StGB in Kraft getreten. Dem voraus ging ein längerer Reformprozeß während der Transformation nach dem politischen Systemwechsel der Jahre 1989/1990. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg durfte an diesem Reformprozeß insoweit teilhaben, als es über wesentliche Schritte aus erster Hand informiert und in die wissenschaftliche Diskussion einbezogen wurde. Ich erinnere an die Tagung "Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht", die 1992 in Buchenbach bei Freiburg stattfand1. Von Jaan Sootak, der schon damals ein wichtiger Gast unseres Hauses war, erfuhren wir in kontinuierlicher Weise Wesentliches über Stand und Tendenzen der Strafrechtsreform in Estland. Zwei - auch theoretisch wichtige - Gesichtspunkte galten dabei dem Verbrechensbegriff sowie dem Menschenrechtsschutz durch Strafrecht. Auf beiden Fragen soll der Schwerpunkt meiner Ausführungen liegen.

1. Der Verbrechensbegriff

Deutsches, schwedisches und russisches bzw.sowjetisches Recht waren grundlegende historische Einflüsse, die das estnische Strafrecht geprägt hatten, wobei das StGB, das es in der Transformation zu reformieren galt, einem originär sowjetischen Einfluß unterlegen war. Jaan Sootak hatte auf der erwähnten Konferenz des Jahres 1992 darauf aufmerksam gemacht, daß eine Übergangsphase zwischen totalitärem und rechtsstaatlichem Strafrecht kaum vermeidbar sei und eine radikale und sofortige Abkehr vom sowjetischen Strafrecht nicht sinnvoll erscheine. Bei dieser Einschätzung nannte er hinsichtlich des Verbrechensbegriffs die Notwendigkeit, diesen an westeuropäischen Vorbildern auszurichten. Dies sei jedoch zeitraubend und setze wissenschaftliche rechtsvergleichende Untersuchungen voraus2.

Auf einer Konferenz, die erst vor wenigen Monaten auf Schloß Ringberg bei München stattfand - sozusagen im Anschluß an die Buchenbacher Konferenz des Jahres 1992 - konnte Jaan Sootak nunmehr feststellen, daß mit dem neuen StGB auf das sowjetische Strafrecht verzichtet und entschieden wurde, den neuen Verbrechensaufbau nach dem Muster der deutschen Strafrechtsdogmatik herauszuarbeiten: Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld sind jetzt die entscheidenden Elemente3. Damit ist der Begriff der Gesellschaftsgefährlichkeit, wie er für den sogenannten materiellen Verbrechensbegriff sowjetisch-sozialistischer Rechtstradition typisch war, weggefallen.

Dieses Ergebnis der estnischen Strafrechtsreform ist nicht unbedingt selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß es in der Strafrechtswissenschaft der Transformationsländer nicht unumstritten ist, einen Verzicht auf den materiellen Verbrechensbegriff als unabdingbar und als Ausdruck besonderer Rechtsstaatlichkeit aufzufassen. Das hat sich auch in der Gesetzgebung niedergeschlagen. Neue Strafgesetzbücher wie etwa das in Polen oder in Rußland haben mit dem materiellen Verbrechensbegriff nicht vergleichsweise radikal gebrochen wie Estland. Dabei steht in diesen Strafgesetzbüchern im Zusammenhang mit dem materiellen Verbrechensbegriff insbesondere die Nichtbestrafung wegen Geringfügigkeit im Vordergrund. Zunächst heißt es in Artikel 14 Abs. 1 des russischen StGB:

Als Straftat gilt eine schuldhaft begangene gesellschaftsgefährliche Tat, die durch dieses Gesetzbuch unter Androhung von Strafe verboten ist.

Und Abs. 2 legt fest:

"Als Straftat gilt nicht eine Handlung (Unterlassung), die zwar formal die Merkmale einer in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Tat enthält, jedoch wegen Geringfügigkeit keine gesellschaftliche Gefahr darstellt, das heißt keinen Schaden herbeigeführt und keine Drohung der Herbeiführung eines Schadens für die Person, die Gesellschaft oder den Staat geschaffen hat."

Im Jahre 1998 wurde der letzte Halbsatz in Abs. 2 "das heißt keinen Schaden herbeiführt und keine Drohung der Herbeiführung eines Schadens für die Person, die Gesellschaft oder den Staat geschafften hat." durch die Gesetzgebung wieder gestrichen. In der russischen Strafrechtswissenschaft herrscht Unklarheit darüber, inwieweit sich diese Streichung auf die Definition der Straftat auswirkt. Zum einen wird die Auffassung vertreten, daß trotz dieser Streichung die "gesellschaftliche Gefährlichkeit" in Abs. 1 ausreichend konkretisiert sei. Zum anderen existiert die Meinung, daß man nun überhaupt vom Merkmal der Gesellschaftsgefährlichkeit Abstand nehmen müsse4. Zu hören ist sogar die Vermutung, daß die Konkretisierung der Gesellschaftsgefährlichkeit im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Konflikt wieder rückgängig gemacht worden sei5.

Im polnischen StGB wird der materielle Verbrechensbegriff mit dem Wort "sozialschädlich" umschrieben. In Artikel 115 § 2 sind die Elemente der Sozialschädlichkeit im einzelnen aufgeführt, worauf ich im Rahmen meines Vortrages nicht näher eingehen kann. Wenn die Sozialschädlichkeit der Tat geringfügig ist, handelt es sich nach polnischem Recht nicht um eine Straftat, so daß auch eine Bestrafung nicht in Betracht kommt6.

Ich hatte bereits vor vier Jahren in Litauen, als der Entwurf eines Allgemeinen Teils des litauischen StGB diskutiert wurde7,darauf hingewiesen, daß die Kritik an dem beibehaltenen materiellen Verbrechensbegriff in Ländern wie Rußland und Polen nicht immer differenziert genug zu erfolgen scheint und wohl auch nicht immer die angestrebten Vorteile dieses Begriffs berücksichtigt werden, nämlich auf eine materielle Entkriminalisierung im Bagatellbereich zu zielen. Zu wenig wissenschaftliche Beachtung haben bisher die Argumente der Befürworter einer Beibehaltung des Begriffs der Gesellschaftsgefährlichkeit gefunden. So hat für Polen Andrzej Zoll wiederholt darauf aufmerksam gemacht, das Geringfügigkeitsprinzip (nullum crimen sine periculo sociale) als eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Strafrecht anzusehen8. Interessant...

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