Die schuldhafte strafrechtliche Verantwortung der juristischen Person. Theoretische Grundlagen und estnische Gerichtspraxis

AuthorPriit Pikamäe - Jaan Sootak
PositionDr.iur., Richter im Staatsgericht Estlands Vorsitzende der Strafkammer - Professor für Strafrecht, Universität Tartu
Pages154-160
154 JURIDICA INTERNATIONAL XIX/2012
Priit Pikamäe Jaan Sootak
Dr.iur., Richter im Staatsgericht Estlands Professor für Strafrecht
Vorsitzende der Strafkammer Universität Tartu
Die schuldhafte
strafrechtliche Verantwortung
der juristischen Person
Theoretische Grundlagen und estnische Gerichtspraxis
1. Einleitung. Allgemeine Grundlagen
der Verantwortlichkeit
1.1. Über die Entstehungsgeschichte
Mit der ersten Strafrechtsreform nach der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Estlands im
Jahre 1992 wurde ein Hauptzweck berücksichtigt, das totalitäre sowjetische Strafrecht zu bewältigen. Unter
anderen Änderungen wurden die ersten Schritte in die Richtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
der juristischen Personen vorgenommen. Nach dem Muster des deutschen Strafrechts hat die Verantwort-
lichkeit in den Rahmen des Ordnungswidrigkeitsrechts (nach der damaligen Bezeichnung „Verwaltungs-
strafrecht“) eine Lösung gefunden, während das Strafrecht nur die Strafbarkeit der natürlichen Personen
ausschließlich im Strafgesetzbuch wegen der Verbrechen vorgesehen hatte.*1 Der Allgemeine Teil des OWiG
enthielt aber keine Bestimmungen betreffend der Grundlagen und Grenzen der Verantwortlichkeit der juri-
stischen Personen; es gab nur die entsprechenden Tatbestände im Besonderen Teil, so dass es tatsächlich
eher um eine objektive Verantwortung ging.
Die Frage der Strafbarkeit der juristischen Personen aktualisierte sich während der Vorbereitung der
Strafrechtsreform 2002. Da die genannte Reform einen Zweck hatte, nach dem Muster des französischen
Strafrechts alle strafbaren Taten – wie die Ordnungswidrigkeiten so auch die Verbrechen – mit der Rege-
lung des Allgemeinen Teils des Strafrechts umzufassen, hatten auch die Grundlagen und Grenzen der
Verantwortlichkeit der juristischen Personen auf ihre Lösung gewartet. Das am 1.09.2002 in Kraft getre-
tene StGB hat erstmalig die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen, wonach die Strafe gleich wegen
der Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen bedroht.*2 Nach dem § 14 StGB wird eine juristische Person
wegen der Tat bestraft, wenn die Tat in ihrem Interesse und von ihrem Organ, dessen Mitglied, von ihrem
Leitungsfunktionär (leitender Person) oder vom zuständigen Vertreter begangen wurde. Die Verantwort-
lichkeit wird nicht dem Staat, der kommunalen Verwaltung und öffentlich-rechtlichen juristischen Person
angewandt. Die Bestrafung der juristischen Person schließt nicht die Bestrafung der natürlichen Person
1 Eesti NSV Kriminaalkoodeks. Kommenteeritud väljaanne (Kommentar zum Strafgesetzbuch). Koostanud prof. I. Rebane.
Tallinn: Eesti Raamat 1980, § 7/5c (auf Estnisch).
2 Die englische Übersetzung des estnischen StGB ist zugänglich im Internet: www.legaltext.ee/et.

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