Der Streitgegenstand im estnischen Verwaltungsprozess

AuthorIvo Pilving
PositionRichter des Oberlandesgerichts Tartu Dozent, Universität Tartu
Pages185-192
1. Einführung

Die richtige Bestimmung des Streitgegenstandes ist eine schwierige, aber unvermeidbare Aufgabe in der täglichen Gerichtspraxis sowie in der Verwaltungsprozesslehre. Von ihr hängen viele zentrale verwaltungsprozessuale Fragen, insbesondere die Konturen der gerichtlichen Kontrolle, die materielle Rechtskraft des Urteils, sowie die Feststellung der Rechtshängigkeit, der Klagehäufung und der Klageänderung ab. Der zu lockere Umgang mit dem Streitgegenstand würde wegen des unklaren Prozessstoffes die Rationalität der Streitlösung beeinträchtigen und die Grenzen der Rechtskraft trüben. Die zu strenge und detaillierte Handhabung könnte indes die Klageerhebung unnötig erschweren sowie die Rechtskraft unsachgemäß verkürzen. Dies haben u.a. die zahlreichen Fälle in der estnischen Rechtsprechung gezeigt, in denen der Kläger sein Klageantrag unrichtig formuliert hat bzw. das Gericht den Streitgegenstand falsch festgestellt hat. Das Ziel des folgenden Beitrags ist nicht rein theoretisch über den zutreffenden Streitgegenstandsbegriff zu polemisieren. Er versucht für den estnischen Verwaltungsprozess ein angemessenes Modell des Streitgegenstands zu finden, das den Leitlinien des effektiven Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit entspricht.

2. Begriff des Streitgegenstandes

Die estnische Verwaltungsprozessordnung (halduskohtumenetluse seadustik - HKMS) definiert den Streitgegenstand nicht, setzt den Begriff aber im Kontext der Verhinderung der wiederholten Klageerhebung voraus (§ 11 Abs. 31 Nr. 3 und 4; § 23 Abs. 1 Nr. 3 und 4 HKMS). Der Streitgegenstandsbegriff wird auch in der im Verwaltungsgerichtsverfahren subsidiär anwendbaren Zivilprozessordnung (tsiviilkohtumenetluse seadustik - TsMS) nicht ausdrücklich festgelegt. Sie fordert jedoch, dass die Klageschrift einen ausdrücklichen Anspruch (Klagegegenstand) sowie den der Klage zugrunde legenden Sachverhalt (Klagegrund) enthalten muss. 2 Das formell rechtskräftige Urteil ist für die Beteiligten so weit verbindlich, wie der Klageantrag bezüglich des für die Klage grundlegenden Sachverhalts entschieden ist. 3 Die Rechtskraft des Urteils betrifft damit neben dem Klageantrag im gewissen Maße auch den Klagegrund. Dementsprechend kann man auch im estnischen Verwaltungsprozess - zuerst als Hypothese - vom in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff ausgehen: der Streitgegenstand ergibt sich demnach aus dem im Klageantrag geltend gemachten (prozessualen) Anspruch und aus dem Klagegrund. 4

Der Klageantrag (Anspruch) ist näher durch den begehrten Richterspruch, sowie durch die umstrittene behördliche Handlung bzw. das umstrittene Rechtsverhältnis bestimmt (z.B. die Aufhebung eines Steuerbescheids). Unter Klagegrund ist nach § 363 Abs. 1 Nr. 2 TsMS der Tatsachenkomplex (Lebenssachverhalt) zu verstehen, aus dem der Kläger sein Recht auf die Befriedigung seines Anspruchs herleitet. 5 Der Klagegrund ist nicht mit den vom Kläger vorgebrachten Tatsachen identisch. Auch werden nicht alle vom Gericht inzident geprüften Vorfragen als Elemente des Klagegrunds mit dem rechtskräftigen Urteil verbindlich. 6 Der Grund einer verwaltungsprozessualen Klage muss viel abstrakter bestimmt werden. Sicher ist zuerst, dass die Bestimmung des Klagegrunds das Programm der Begründetheits- oder zumindest der Zulässigkeitsprüfung der entsprechenden Klageart berücksichtigen muss. 7 Analog zum § 113 Abs. 1 S. 1 und Abs. 5 VwGO erweist sich dabei in Estland wohl das estnische Staatshaftungsgesetz (riigivastutuse seadus - RVastS) 8 als maßgeblich. In diesem Rahmen wird zweitens die funktionale und wertende Abwägung notwendig. Besonders unter Berücksichtigung der Gebote der Rechtsicherheit und des effektiven Rechtschutzes sollte man bewerten, welche entscheidungserhebliche Tatsachen für die eventuellen Folgeverfahren verbindlich bleiben müssen und dürfen, sowie welche Kennzeichen eine frühere Streitsache bei der Vermeidung wiederholender Klageerhebungen identifizieren sollen.

3. Der Streitgegenstand einzelner Klagearten

§ 6 Abs. 2 und 3 HKMS kennt vier Grundarten von verwaltungsgerichtlichen Klagen: Anfechtungsklage (3.1); Verpflichtungsklage (3.2); Entschädigungsklage (3.3) und Feststellungsklage (3.4). 9

3.1. Anfechtungsklage
3.1.1. Klageantrag

Zuzustimmen ist der Position, dass das Aufhebungsbegehren den Kern des Anfechtungsprozesses darstellt und deshalb nicht aus dem Streitgegenstand verdrängt werden darf. 10 Der Gegenstand des Aufhebungsstreits kann sich nicht mit der Feststellung der Rechtsverletzung oder der Rechtswidrigkeit begnügen. Aus der Rechtsverletzung folgt keineswegs unbedingt die volle Begründetheit der Anfechtungsklage, da deren Stattgabe noch von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt. 11 Die Gegenmeinungen, die den Streitgegenstand der Anfechtungsklage nur in der Feststellung der Rechtsverletzung sehen 12 , setzen die Anfechtungsklage unbegründet mit der Feststellungsklage gleich. Das Anfechtungsurteil ist Gestaltungsurteil. Deswegen ist es in diesem Kontext auch unpräzise, über die Feststellung des Aufhebungsanspruchs oder die Feststellung der Unwirksamkeit des angefochtenen Bescheids zu sprechen. Das Gericht muss vielmehr die bisherige, normalerweise trotz der Rechtswidrigkeit bestehende Gültigkeit des Bescheids konstitutiv beseitigen. 13 Das Fehlen der feststellenden Wirkung schließt aber die Maßgeblichkeit des Urteils hinsichtlich der Unwirksamkeit des Verwaltungsakts nicht aus. Die Bindungswirkung eines Gestaltungsurteils ist sogar umfangreicher als die Rechtskraft des Feststellungsurteils, da das erste die materielle Rechtslage ändert und dadurch auch die nicht beigeladenen Personen oder Behörden binden kann. 14

3.1.2. Klagegrund

Umstritten ist, ob das Aufhebungsurteil neben der Gestaltungswirkung auch die Rechtswidrigkeit oder die subjektive Rechtsverletzung des Klägers feststellt. Sicher ist, dass die subjektive Rechtsverletzung - anders als die objektive Rechtswidrigkeit - im Aufhebungsstreit während der Begründetheitsprüfung relevant ist und deshalb grundsätzlich den Klagegrund darstellen kann. Die rechtspolitischen und die praktischen Erwägungen sprechen eher zugunsten der Erweiterung der Rechtskraft auf die Rechtsverletzung. Im Aufhebungsprozess werden erhebliche Ressourcen für die Klärung des Eingriffs und dessen Rechtmäßigkeit aufgewendet. 15 Es lässt sich kaum erläutern, warum das Ergebnis der Beurteilung nicht in möglichen weiteren Verfahren maßgeblich sein soll. Zwar kann die Verbindlichkeit der detaillierten Vorfragen mitunter für die Beteiligten unvoraussehbare Konsequenzen bedeuten. Bei der rechtskräftigen Feststellung der Rechtsverletzung ist dies jedoch grundsätzlich nicht der Fall: so dürfte ein möglicher Schadensersatz- bzw. Folgenbeseitigungsanspruch aufgrund der Rechtsverletzung die Beteiligten des Aufhebungsprozesses kaum überraschen. Vielmehr wäre es unbefriedigend, wenn man die Rechtsverletzung eines gerichtlich aufgehobenen Verwaltungsakts im folgenden Entschädigungssprozess verneinen würde. Die Feststellungsklage schütze dann die Rechte des Klägers - ungeachtet des eventuellen Feststellungsinteresses - umfangreicher als die Anfechtungsklage. Die Anfechtungsklage stellt aber das Hauptrechtsmittel gegen belastenden Verwaltungsakte dar. 16 Zweitens ist die Feststellung der Rechtsverletzung zum Schutz des Klägers gegen den wiederholten Erlass des aufgehobenen Bescheids nötig. Das stattgegebene Aufhebungsbegehren selbst verbietet den neuen Erlass des Verwaltungsakts nicht; bekanntlich ist der Neuerlass nur dann verboten, wenn die Behörde ihre neue Entscheidung auf die vom Gericht mißbilligten Gründe stützt. Käme der Feststellung der Rechtsverletzung keine präjudizielle Werkung zu, müsste der erfolgreiche Kläger bei der Wiederholung des rechtswidrigen Verwaltungsakts erneut die vollständige Sachprüfung begehren. Dies würde ihn jedoch unsachgemäß belasten. 17 Deshalb nimmt die Rechtsverletzung als Grund der Anfechtungsklage an der Rechtskraft teil und das Aufhebungsurteil stellt neben seiner Gestaltungswirkung für die Beteiligten auch die Rechtsverletzung verbindlich fest. 18

Die Feststellungswirkung des Aufhebungsurteils ist dadurch begrenzt, dass das Gericht nur die Befolgung derjenigen Normen prüfen darf, die den Kläger subjektive Rechte verleihen. 19 Die Verletzung der Rechte von Dritten oder der Normen, die nur das öffentliche Interesse schützen, darf das Gericht in der Regel nicht kontrollieren und damit gar nicht rechtskräftig feststellen. Weitere Konkretisierungen des Klagegrundes hinsichtlich der in der Klage erwähnten Normen oder des vorgetragenen Sachverhalts wären aber zu weitgehend. Nach § 3 Abs. 1 RVastS 20 kann jede Rechtsverletzung durch den angefochtenen Verwaltungsakt den Aufhebungsanspruch begründen, so dass sie alle entscheidungserheblich sind. Wegen der Untersuchungsmaxime muss das Gericht sie alle von Amts wegen prüfen, unabhängig davon, ob der Kläger sie vorbringt. 21 Außerdem würde die Beschränkung des Klagegrundes nur auf die jeweils vom Kläger vorgebrachte Rechtsverletzung das Verbot der erneuten Klageerhebung unzulässigerweise kürzen. Nach der hier vertretenen Auffassung hat man mit...

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