Europäisches Strafrecht - Legitimation und Zukunftsperspektiven

AuthorThomas Weigend
Pages36-42

Thomas Weigend

Europäisches Strafrecht - Legitimation und Zukunftsperspektiven

Der Internationale Strafgerichtshof, dessen schwierige Geburt und kontroverse Reichweite in diesen Tagen die Diskussionen beherrschen, bildet dabei nur ein, allerdings prominentes Beispiel für die Internationalisierung des Strafrechts; seine Existenz macht deutlich, daß jedenfalls der größere Teil der Völkergemeinschaft entschlossen ist, einige schwerste Verbrechen gegen die gemeinsamen Werte aller Staaten ohne Rücksicht auf nationale Vorbehalte zu verfolgen. Ein anderer, zunächst weniger spektakulärer Bereich der Internationalisierung des Strafrechts hat mit dem Zusammenwachsen der Europäischen Union zu tun. Bei ihm steht die Frage im Vordergrund, ob und in welchem Maße die in der Europäischen Union miteinander verbundenen Staaten bereit sind, auch ihre Strafgewalt an die Gemeinschaft zu übertragen oder sich auf strafrechtlichem Gebiet jedenfalls verbindlichen Vorgaben von seiten der Gemeinschaft zu unterwerfen.

1. Entwicklungsstand eines Strafrechts der Europäischen Union

Ursprünglich lag die Begründung einer Kompetenz für die Verhängung von Kriminalstrafen bekanntlich weit außerhalb dessen, was man sich für die Organe der Europäischen Gemeinschaften vorstellen konnte und wollte. Zwar kann die Kommission der EG schon seit den sechziger Jahren hohe Bußgelder gegen Unternehmen verhängen, die gegen das Kartellrecht der EG verstoßen, indem sie etwa unerlaubte Preisabsprachen treffen; man hat diese Sanktionsbefugnis aber bewußt schon terminologisch von den Strafen des Kriminalrechts getrennt1 und so zum Ausdruck gebracht, daß die eigentliche Strafgewalt - im Sinne der Verhängung von Sanktionen, die mit einem ethischen Unwerturteil über menschliches Verhalten verbunden sind - ausschließlich bei den Nationalstaaten verbleiben soll.

Die Nachteile dieser zunächst allgemein konsentierten Politik zeigten sich, als sich im Laufe der Jahre Verstöße gegen die finanziellen Eigeninteressen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mehrten. In den Fällen, in denen Täter Subventionen der EG durch falsche Angaben erschwindelten oder Abgaben hinterzogen, die der EG zugute kommen sollten, war die Gemeinschaft in Ermangelung eigener Strafgewalt darauf angewiesen, daß die Mitgliedstaaten die Täter selbst nach ihrem Strafrecht zur Verantwortung zogen. Dies scheiterte in manchen Fällen daran, daß in den Staaten schon gar keine Strafvorschriften zum Schutz von EG-Interessen vorhanden waren; und selbst wenn solche Regelungen existierten, wurden Straftaten zum Nachteil der fernen Brüsseler Institutionen in manchen Staaten mangels eigenen Interesses gar nicht oder nur sehr lax verfolgt. Dem trat zunächst, in dem bekannten Fall des griechischen Maisskandals2, der Europäische Gerichtshof unter Hinweis auf die allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue entgegen, und entsprechend seinen Vorgaben wurden durch den Vertrag von Maastricht alle Staaten ausdrücklich verpflichtet, Verstöße gegen die finanziellen Interessen der EG mit effektiven und abschreckenden Sanktionen zu belegen und mit gleicher Intensität zu ahnden wie vergleichbare Straftaten gegen innerstaatliche Interessen3.

Damit war aber zunächst nur ein äußerer Rahmen von Mindestverpflichtungen geschaffen, der der Kommission ersichtlich nicht genügte, um einen flächendeckenden Schutz der finanziellen Interessen der EG in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu gewährleisten. Als problematisch wurde insbesondere der Umstand angesehen, daß sich die (möglicherweise) einschlägigen Straftatbestände in den Strafgesetzbüchern der einzelnen Mitgliedstaaten nicht unerheblich voneinander unterscheiden; so weist etwa der hier zentrale Tatbestand des Betruges im deutschen und im französischen Recht unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen auf4. Da der Europäischen Gemeinschaft die Kompetenz zur Schaffung von Strafnormen fehlte, man aber an einer Vereinheitlichung des Rechts auf diesem Gebiet interessiert war, wurde im Jahre 1995 ein Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft geschlossen, das einheitliche Tatbestände und auch einige Regelungen zum Allgemeinen Teil enthält und alle Mitgliedstaaten zur Verabschiedung entsprechender Vorschriften in ihrem jeweiligen nationalen Recht verpflichtet5. Dieses Übereinkommen ist von den Mitgliedstaaten nur sehr schleppend ratifiziert worden; es ist jedoch damit zu rechnen, daß es in naher Zukunft in Kraft treten kann. Wenn dies geschehen ist, gibt es jedoch immer noch keinen "automatischen" Schutz der Finanzinteressen der EG, sondern die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen müssen von den jeweiligen nationalen Gesetzgebern in ihr Recht umgesetzt und Verletzungen von EG-Interessen müssen innerhalb der nationalen Strafrechtssysteme aufgeklärt, angeklagt und abgeurteilt werden. Dieser umständliche Weg der Implementation enthält, wie man sich vorstellen kann, eine Vielzahl von Hürden, an denen eine effektive Ahndung im Einzelfall scheitern kann.

Die Kommission der EG hat deshalb neben ihren Bemühungen um die Verabschiedung des Übereinkommens stets das Ziel im Auge behalten, eine zentral gesteuerte Strafverfolgung von Verstößen gegen die finanziellen Interessen der EG zu ermöglichen. Zu diesem Zweck berief sie zunächst eine hochkarätig besetzte internationale Arbeitsgruppe aus renommierten Strafrechtlern unter der Federführung der Pariser ProfessorinMireille Delmas-Martyein, die das Modell einer europaweit harmonisierten Gesetzgebung zur Verfolgung von Delikten zum Nachteil der EG entwerfen sollte. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist das im Jahre 2000 in überarbeiteter Fassung vorgelegte "Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union"6. Dieser Entwurf enthält, ähnlich wie das erwähnte Übereinkommen von 1995, zunächst Definitionen einiger Straftaten, die gegen Interessen der EG gerichtet sind: neben der Hinterziehung von Abgaben und dem Erschleichen von Subventionen mittels falscher Angaben die Bestechung von Bediensteten der EG, Amtsuntreue durch solche Bedienstete sowie Geldwäsche bezogen auf Erträge aus den eben genannten Straftaten. Darüber hinaus enthält das Corpus Juris einen weitgehend ausgearbeiteten Allgemeinen Teil, der beispielsweise Regelungen über subjektive Voraussetzungen der Strafbarkeit, über Täterschaft, Teilnahme und kriminelle Vereinigung, ferner über Versuch und Vorgesetztenverantwortlichkeit sowie über die Strafbarkeit juristischer Personen umfaßt. In einem dritten Teil sieht das Corpus Juris schließlich einen Mechanismus zur einheitlichen Durchsetzung der Strafnormen vor. Dabei konnte man sich allerdings nicht zur Einführung eines europäischen Strafgerichtshofs entschließen, obwohl dies möglicherweise die konsequenteste Fortführung des Gedankens einer (materiell begrenzten) europäischen Strafrechtsordnung wäre; statt dessen wird aber die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vorgeschlagen, die zentral geleitet in allen Mitgliedsländern zur Ermittlung und Verfolgung von EG-relevanten Verstößen tätig wird und so für eine einheitliche, straffe Durchsetzung der Strafvorschriften vor den nationalen Gerichten sorgen soll.

Obdie Vorschläge des Corpus Juris schon unter dem geltenden Europarecht, speziell nach Art. 280 Abs. 4 EG-Vertrag verwirklicht werden könnten, ist umstritten, da Satz 2 dieser Norm ausdrücklich vorsieht, daß die Maßnahmen des Rates zur Bekämpfung von Betrügereien die jeweilige nationale Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten und die Anwendung ihres Strafrechts unberührt lassen7. Auch die Kommission selbst ist inzwischen offenbar der Auffassung, daß das geltende europäische Primärrecht eine Verpflichtung zur Schaffung bestimmter (echter) Strafvorschriften sowie das Tätigwerden einer Europäischen Staatsanwaltschaft in den Mitgliedsländern nicht autorisiert, und strebt deshalb eine Ergänzung des EG-Vertrages durch einen neuen Artikel 280a an, der ebendiese Regelungen explizit enthalten soll. Zur Vorbereitung und Absicherung dieser Initiative, die offensichtlich auf der politischen Ebene des Rates noch auf einige Vorbehalte stößt, hat die Kommission Ende 2001 ein Grünbuch8 vorgelegt, das die wichtigsten Grundsätze der angestrebten Regelung enthält und zur Zeit in den Mitgliedstaaten sowie auf europäischer Ebene diskutiert wird.

Das ist aber noch nicht alles. Neben den Bemühungen um einen europaweit übereinstimmenden und effektiv gestalteten strafrechtlichen Schutz ihrer Eigeninteressen - also um ein in seiner Materie noch begrenztes Vorhaben - verfolgt die EG langfristig das Ziel, große Bereiche des Strafrechts im europäischen Rechtsraum weitgehend "harmonisch", d.h. inhaltlich übereinstimmend zu gestalten und (konsequenterweise) gleichzeitig die notwendigen Mechanismen für eine ebenso "harmonische" effiziente Rechtsdurchsetzung zu...

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