Über die neueste Strafrechtsentwicklung in Finnland

AuthorRaimo Lahti
Pages62-67

Raimo Lahti

Über die neueste Strafrechtsentwicklung in Finnland

1. Einleitung

In diesem Artikel werde ich allgemein die neuesten Entwicklungstendenzen im finnischen Strafrecht und in der finnischen Strafrechtsdogmatik beschreiben und analysieren. Hierbei ist meine Absicht, einige aktuelle Fragen des allgemeinen Teils - der Zurechnungslehre - im erneuerten finnischen Strafgesetzbuch (StGB) näher zu behandeln. Die Gesamtreform des finnischen StGB (das aus dem Jahre 1889 stammt) wurde auf der Grundlage des Berichts des Strafrechtskomitees (1972-1976) eingeleitet und in den Jahren 1980-1999 von einer besonderen Projektorganisation des Justizministeriums vorbereitet. Diese dreissigjährige Gesamtrevision ist bis 2003 in allen wesentlichen Teilen durchgeführt worden1.

Die Gesamtreform des finnischen StGB ist durch teilweise Revisionen verwirklicht geworden. Der Schwerpunkt der Gesamtreform lag auf den Deliktstatbeständen, d. h. dem besonderen Teil des Strafrechts. Besonders umfangreich waren die 1991 und 1995 in Kraft getretenen Änderungen des besonderen Teils des StGB und vieler anderer Nebengesetze (Gesetzsammlung 769-834/1990 und 578-742/1995). Im Jahre 1995 trat auch eine in prinzipieller Hinsicht wichtige Neuheit in Kraft: die strafrechtliche Verantwortlichkeit von juristischen Personen wurde eingeführt (743-747/1995).

Wichtige Reformen des strafrechtlichen Sanktionensystems wurden schon in den 70er Jahren begonnen. In diesen Reformen spiegelte sich eine neue kriminalpolitische Denkweise, der sog. nordische Neoklassizismus wieder2. Als letzte Phase ist die Reform der allgemeinen Lehren des Strafrechts (Zurechnungs- und Strafbemessungslehre) am 31.1.2003 vom Parlament akzeptiert worden, und jene neue Bestimmungen treten wahrscheinlich zum 1.1.2004 in Kraft. Danach sind nur Kleinigkeiten übrig. Es ist die Absicht, dass es zum Schluß der Gesamtreform ein förmlich neues StGB geben wird.

Es sei erwähnt, dass das Internationale Forschungskolloquium "Finnisches Strafgesetz 100 Jahre" im Jahre 1990 an der Universität Helsinki veranstaltet wurde. Damals war es ein Ziel des Kolloquiums, die vorläufigen Entwürfe zu den Bestimmungen über den Allgemeinen Teil des StGB zu erörtern. Das gesamte Material des Kolloquiums wurde in drei Bänden (1990, 1992) publiziert3. Einige Änderungen, die man vor den endgültigen Formulierungen vornahm, wurden schon in den kritischen Kommentaren des Kolloquiums befürwortet4.

2. Ausgangspunkte Das strafrechtliche Sanktionensystem

Zu den kriminalpolitischen Ausgangspunkten der Strafgesetzreform gehören der begründete Glaube an die generalpräventiven Wirkungen (besonders die sog. Integrationsprävention) des Strafrechts und des gesamten strafrechtlichen Kontrollsystems sowie die Betonung der Prinzipien der Gerechtigkeit und Humanität dieses Systems. Diese Ausgangspunkte haben die Reformierung des strafrechtlichen Sanktionensystems und die angenommenen Kriminalisierungsprinzipien (die Reform des besonderen Teils des StGB) am stärksten beeinflusst.

Die erwähnten Ausgangspunkte waren schon für den "Neoklassizismus" typisch, dessen Blütezeit in die zweite Hälfte der 70er Jahre fiel. Die konkreten Reformvorschläge richteten sich in Finnland am stärksten auf die Reduzierung der Anzahl der Häftlinge; man sollte sowohl die durchschnittliche Länge der Freiheitsstrafen verkürzen (insbesondere für die Vermögensdelikte Verurteilten) als auch Alternativen zur Freiheitsstrafe entwickeln (wie die Reformen der bedingten Verurteilung und der Geldstrafe). Finnland unterschied sich damals von den übrigen nordischen Ländern in der Hinsicht, dass es bei uns, mit über 100 Häftlingen pro 100 000 Einwohner, proportional gesehen deutlich mehr Strafgefangene gab. Seit der Mitte der 70er Jahre bis 1999 wurde diese Zahl fortwährend herabgesetzt und liegt jetzt bei ungefähr 70 Strafgefangenen - ähnlich wie in den anderen nordischen Ländern5.

Seit dem Beginn der 90er Jahre ist aus den Änderungen des strafrechtlichen Sanktionensystems eine gemäßigte Erweiterung des individualisierenden Ermessens von Gericht oder Staatsanwaltschaft ersichtlich. So wurde zum Beispiel der Bereich des Absehens von strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilung erheblich erweitert, und gemeinnützige Dienste wurden - zuerst probeweise - als Sanktion in Gebrauch genommen. In dieselbe Richtung zielte die Änderung der Gesetze über das Zusammentreffen mehrerer Straftaten. Hierbei wurde von der Differenzierung der Formen der Straftatenkonkurrenz bei der Verhängung einer Strafe für zwei oder mehrere Delikte Abstand genommen und zu dem sog. "Einheitsstrafensystem" übergegangen, bei dem für die Delikte von Anfang an nur eine gemeinsame Strafe verhängt wird. Die neueste Reform vor einigen Jahren war, eine besondere Jugendstrafe für (zur Tatzeit) 15- bis 17-jährige Rechtsbrecher probeweise einzuführen6.

3. Grenzen des Strafrechts: kriminalpolitische Zweckmäßigkeit versus Rechtsstaat

Das Hauptaugenmerk der Gesamtreform des StGB richtet sich auf die Kriminalisierungen, also die besonderen Tatbestände des Strafrechts: auf die abdeckende und einheitliche Beurteilung dessen, was zu bestrafen ist und mit welch strengen Strafen. Das Strafrechtskomitee (1976) benutzte für die Erwägung der Kriminalisierungen ein besonderes Denkmodell. Neben der Evaluierung der Nachteiligkeit und Vorwerfbarkeit (Strafwürdigkeit) der betreffenden Verhaltensformen ist mit Hilfe von systematischen Vorteilsvergleichen abzuwägen, ob der Bedarf besteht, auf das Strafrecht zurückzugreifen (Strafbedürftigkeit).

Trotz der letztgenannten Forderung, nach der das Strafrecht eine ultima ratio sein sollte, ist es das vorrangige Ziel der finnischen Reformarbeit gewesen, die Strafvorschriften der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen, d. h. das Strafrecht dynamisch weiter zu entwickeln. Kennzeichnende Beispiele hierfür sind die Erweiterung der durch das Strafrecht geschützten Rechtsgüter in Richtung der kollektiven und staatlichen Interessen, besonders durch Strafregulierungen, die wirtschaftliche Tätigkeit betreffen (Wirtschafts- und Umweltkriminalität), sowie die Ausdehnung der strafrechtlichen Gefährdungshaftung, insbesondere durch zunehmende Kriminalisierung der sog. abstrakten Gefährdung von Rechtsgütern.

In der strafrechtstheoretischen Diskussion ist diese Entwicklung kritisiert worden. Zum Beispiel spricht der Deutsche Winfried Hassemer von wesentlichen Nachteilen des symbolischen Strafrechts7 und der Schwede Nils Jareborgvon den Nachteilen der offensiven Anwendung des Strafrechts8. Die Grenzen des Strafrechts sollten dieser Kritik zufolge ernsthaft anerkannt werden.

In der finnischen Debatte wurden als verteidigende Argumente für die offizielle Kriminalpolitik u. a. folgende Gesichtspunkte vorgebracht: Erstens seien der erweiterte strafrechtliche Schutz der gemeinschaftlichen Interessen und die Ausdehnung der strafrechtlichen Gefährdungshaftung recht moderat - zumindestens im Vergleich zu denkbaren extremen Alternativen9.

Zweitens habe man das Strafrecht niemals nurals symbolische Gesetzgebung gedacht, obgleich die Symbolfunktion wichtig sei. Man müsse...

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