Eingreifen oder nicht eingreifen, das ist hier die Frage. Die Problematik der Bestimmung und des Anwendungsbereichs der Eingriffsnormen im internationalen Privatrecht

AuthorRagne Piir
PositionLL.M., Berater am estnischen Staatsgericht
Pages199-206
1. Einleitung

Die alltäglich gewordene grenzüberschreitende Kommunikation und die zunehmende Internationalisierung sowohl des gesellschaftlichen als auch familiären Bereichs bedeuten, dass die Richter zunehmend Fälle zu lösen haben, die nicht nur mit einem Staat verbunden sind, und Rechte anzuwenden haben, die sie nicht ausreichend kennen. In solchen Fällen können die Eingriffsnormen als "Rettungsringe" dienen, die es dem Richter dennoch ermöglichen, von der Anwendung des ausländischen Rechts abzuweichen und damit inländische Grundwerte und -Prinzipien zu gewähren.

Hinsichtlich dieses Bedürfnisses, mitunter eine solche Abweichung zuzulassen, wurde sowohl in inländischen Gesetzen zum internationalen Privatrecht als auch in entsprechenden neuesten Staatsverträgen und EU-Verordnungen die Möglichkeit vorgesehen, die Anwendung des ausländischen Rechts aufgrund innerstaatlicher Interessen zu verweigern. Bei den Eingriffsnormen handelt es sich um eine der zahlreichen Änderungen, die mit dem Inkrafttreten der Rom I-Verordnung 1 stattgefunden hat und für die Rechtspraxis von Bedeutung ist. Die Anwendung dieser Ausnahme fällt jedoch schwer, da es sich dabei um einen Begriff handelt, der nicht nur inhaltlich kompliziert zu definieren ist, sondern dessen Eingreifen auch von vielen Aspekten und ihren Mitwirkungen abhängig ist.

In diesem Aufsatz soll die Problematik und Bedeutung von Eingriffsnormen aufgezeigt werden. Das Ziel des folgenden Beitrags ist es zu untersuchen, was im Allgemeinen als Eingriffsnormenbezeichnet wird und vornehmlich - unter welchen Voraussetzungen sie in der Praxis eingreifen können. In dem Aufsatz wird auf die neuesten entsprechenden Entwicklungen in der EU eingegangen und untersucht, ob und welche Fortschritte diese gegenüber dem EVÜ bringen. Als gesetzliche Grundlagen der Untersuchung werden die entsprechenden Gesetze Estlands und die EU-Verordnungen benutzt; außerdem wird rechtsvergleichend auch das deutsche Recht einbezogen.

2. Begriff und Bestimmung der Eingriffsnormen
2.1. Begriff der Eingriffsnormen

Bei den Eingriffsnormen handelt es sich um Normen, die ohne Rücksicht auf das Vertragsstatut bzw. Deliktsstatut den Sachverhalt zwingend regeln. Diese sind in § 31 des estnischen IPR-Gesetzes 2 (und im Art. 34 EGBGB 3 ) geregelt - Art. 34 nennt zwar den Begriff von Eingriffsnormen nicht ausdrücklich und spricht nur von zwingenden Vorschriften, im EIPRG dagegen wird schon seit dem Inkrafttreten des EIPRGs am 1. Juli 2002 ausdrücklich von Eingriffsnormen gesprochen.

Die Festlegung des Begriffes der Eingriffsnormen kann vielschichtige Probleme aufwerfen. Es ist dabei von besonderer Wichtigkeit, zwischen den Eingriffsnormen und zwingenden inländischen Bestimmungen (§ 32 Abs. 3 EIPRG, Art. 27 Abs. 3 EGBGB) zu unterscheiden. Der Grund dafür ist, dass zwingende inländische Bestimmungen nur dann eingreifen können, wenn der Sachverhalt mit einem und demselben Staat verbunden ist. Ebenso müssen Eingriffsnormen von zwingenden Bestimmungen zum Schutz des Verbrauchers im Sinne des § 34 EIPRG abgegrenzt werden, die nur in den Fällen anzuwenden sind, in denen der innerstaatliche Verbraucherschutzstandard durch Anwendung von ausländischem Recht gefährdet wird.

In verschiedenen Sprachen wurden bis heute mehrere verschiedene Begriffe anstelle vom Begriff Eingriffsnormen ( üldist kehtivust omavad sätted ) benutzt4. Solch eine Verwendung paralleler Begriffe ist an sich nicht problematisch, obwohl die Benutzung eines konkreten Begriffs im Interesse der Rechtssicherheit vorzuziehen wäre. Besonders wichtig ist, dass die Verwendung paralleler Begriffe keine Schwierigkeiten bei der Festlegung der Eingriffsnormen verursacht. Zum Beispiel werden in der estnischen rechtswissenschaftlichen Literatur neben dem Begriff der Eingriffsnormen auch solche Termini wie imperative Bestimmungen ( imperatiivsed normid ) 5 , international zwingende Normen ( rahvusvaheliselt imperatiivsed sätted ) 6 oder zwingende Vorschriften ( kohustuslikud sätted ) 7 verwendet. Gerade die Benutzung des Begriffs der imperativen Bestimmungen oder zwingenden Vorschriften ermöglicht es aber nicht, die Natur der Eingriffsnormen eindeutig zu verstehen, und Schwierigkeiten können sowohl bei der Unterscheidung zwischen Eingriffsnormen und zwingenden inländischen Bestimmungen als auch bei der Entscheidung über deren Anwendung entstehen.

In der Fachliteratur wurde vielfach kritisiert, dass der Begriff von Eingriffsnormen in Art. 7 EVÜ inhaltlich undefiniert gelassen wurde8. Eigentlich definieren weder § 31 EIPRG, Art. 16 Rom II-Verordnung 9 noch Art. 34 EGBGB nicht, was unter dem Begriff der Normen, die ohne Rücksicht auf das Vertragsstatut bzw. Deliktsstatut den Sachverhalt zwingend regeln, zu verstehen ist. Deswegen ist zu begrüßen, dass bei der Umwandlung des EVÜ in die Rom I-Verordnung auch die Eingriffsnormen revidiert wurden. Bei der Umwandlung wurde nicht nur die Überschrift der Vorschrift verbessert - diese Norm ist jetzt als Eingriffsnormen tituliert - sondern der Verordnung wurde auch die Legaldefinition der Eingriffsnormen hinzugefügt, was die Natur von Eingriffsnormen besser zu verstehen ermöglichen soll. Gemäß der in Art. 9 der Rom I-Verordnung beinhalteten Definition ist eine Eingriffsnorm eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe der Rom I-Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Diese Begrifflichkeit folgt eng der Arblade-Entscheidung des EuGH 10 und stimmt in begrüßenswerter Weise mit dem bisherigen Verständnis der international zwingenden Bestimmungen weitgehend überein11. Die Benutzung des Terminus Eingriffsnorm hilft hoffentlich von jetzt an die Verwendung paralleler Begriffe zu vermeiden. Erfreulicherweise ist durch die Verwendung der Legaldefinition auch die unter dem EVÜ bestehende Begriffswirrung zwischen einfach und international zwingenden Bestimmungen beendet12.

2.2. Bestimmung der Eingriffsnormen

Obwohl die neue Rom I-Verordnung eine Legaldefinition der Eingriffsnormen beinhaltet, ist damit keinesfalls eine umfassende Regelung vorgesehen. Im Gegensatz - allein die Definition selbst genügt meistens nicht um zu entscheiden, ob eine Vorschrift auch eine Eingriffsnorm ist13. Demzufolge ist für die Feststellung des international zwingenden Charakters einer Norm festzulegen, ob die fragliche Norm einen sog. Anwendungswille oder Geltungswille hat. Der Anwendungswille, der auch bisher zu fordern war, bedeutet einen besonderen Geltungsanspruch der Norm, ohne Rücksicht auf fremdes Recht in jedem Fall durchgesetzt zu werden. Im Idealfall sollte der Anwendungswille der Norm schon aus ihrer Formulierung ableitbar sein. Um weitere Fraglichkeiten zu vermeiden, sollte der Gesetzgeber mithin schon beim Formulieren von Rechtsakten gegebenenfalls expressis verbis vorschreiben, dass ein Vorschrift ohne Rücksicht auf das für das Rechtsverhältnis maßgebende Recht anzuwenden ist. Zum Teil hat z. B. der deutsche Gesetzgeber dies auch getan, indem er - insbesondere in jüngeren Vorschriften - die internationale Normgeltung ausdrücklich angeordnet hat14. Da solche expressis verbis vorgeschriebene internationale Normgeltung jedoch vergleichsweise selten in Gesetztexten vorkommt, ist es unmöglich bloß nach der Formulierung der Vorschrift zu entscheiden, ob der Anwendungswille der Vorschrift vorhanden ist15.

Wenn der Wortlaut der Norm den Anwendungswillen nicht ausdrücklich erwähnt, muss ihr staatspolitischer Zweck ermittelt werden, um den international zwingenden Charakter der Norm festzulegen. Es bedeutet, dass Normen, die als Eingriffsnormen anzusehen sind, hauptsächlich staats- und wirtschaftspolitischen Interessen dienen (sollen), oder aus sozial- oder gesellschaftspolitischen Gründen erlassen worden sein sollen16. Dieser schon zu Art. 34 EGBGB und Art. 7 EVÜ entwickelte Meinungsstand wurde auch in die Rom I-Verordnung eingenommen - gemäß Art. 9 Abs. 1 wird die Wahrung des öffentlichen Interesses eines Staates, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation expressis verbis als Zweck der Eingriffsnormen genannt. Für die Klassifizierung als Eingriffsnorm ist es also notwendig, dass die Norm überwiegend oder zumindest stark im öffentlichen Interesse liegt - Vorschriften, die in erster Linie Privatinteressen ausgleichen, fallen somit aus dem Kreis der Eingriffsnormen heraus17. Es ist jedoch nicht per se ausgeschlossen, dass Eingriffsnormen auch zum Schutz der sozial schwächeren Partei eingreifen können. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass sie daneben zumindest auch Gemeinwohlziele verfolgen18.

3. Voraussetzungen der Anwendung der Eingriffsnormen

Obwohl Art. 16 Rom II-Verordnung aufgrund des Widerstands einzelner Mitgliedstaaten 19 nur von einer einzigen Art von Eingriffsnormen - internen Eingriffsnormen oder Eingriffsnormen der lex fori - spricht, ist gemäß Art. 9 der Rom I-Verordnung zwischen zwei Arten von Eingriffsnormen zu unterscheiden. Nämlich werden neben den Eingriffsnormen der lex fori auch sog. externe oder fremde Eingriffsnormen erwähnt. Eine wesentliche Änderung im Vergleich zu der bisherigen Rechtssituation, wo viele Vertragsstaaten von einem möglichen Vorbehalt gegenüber der Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen Gebrauch...

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