Die Entstehung des Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts (1850?1900)

AuthorMichael Stolleis
Pages21-28
21
JURIDICA INTERNATIONAL 21/2014
Michael Stolleis
Prof. Dr.
Emerit. Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische
Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main
Die Entstehung des Allgemeinen
Teils des Verwaltungsrechts
(1850–1900)
I.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich in der Disziplin, die man jetzt „Verwaltungsrecht”
nannte ein Wechsel der Perspektive. Das Verwaltungsrecht, das in Deutschland noch bis um 1830 „Poli-
zeirecht” genannt wurde, aber auch (nach französischem Vorbild) Administrativrecht, wurde traditionell
in den Lehrbüchern so dargestellt, dass man für die einzelnen Ministerien aufzählte, welches Administra-
tivrecht bei ihnen galt. Die Masse dieses „Polizeirechts” lag beim Innenministerium, anderes beim Finanz-
ministerium, Kriegsministerium, Justizministerium und ein wenig auch beim Außenministerium. Diese
Darstellungsweise nannte man die „staatswissenschaftliche Methode”. Sie war einfach und übersichtlich,
aber eben unjuristisch und einfach additiv. Verbindungen zwischen den einzelnen Gesetzen des Admini-
strativrechts schien es nicht zu geben. Land- und Forstwirtschaft, Veterinärmedizin, Wasserwirtschaft,
Ingenieurwissenschaft, Bergbau, Armenwesen, Finanzwesen und Geldpolitik – alles war öffentlichrechtlich
geordnet und gehörte zur „Administration”*1.
Ab 1865 erhob sich hiergegen im Namen der „juristischen Methode” Widerspruch. Die Masse des Stoffs
war nicht mehr beherrschbar. Ein Dutzend nichtjuristischer Spezialdisziplinen hatten sich ausgebildet.
Deshalb versuchte man nun, alle „Realien” beiseite zu schieben, um die juristischen Verbindungselemente
zu betonen. Man suchte die juristischen Strukturen und wollte „wissenschaftlich” arbeiten. Eine logisch
kohärente Dogmatik sollte entstehen, wie man sie vom Zivilrecht kannte. Konnte man nicht, so lautete
die neue Frage, einen Kanon von Figuren und Rechtsprinzipien des „allgemeinen” Verwaltungsrechts bil-
den, der überall anwendbar war, der eine Struktur ergab, so dass man auf die nichtjuristischen Disziplinen
nur verweisen musste? Der Rechtsstaat verlangte eine Herauspräparierung des juristisch Wesentlichen,
damit seine neu geschaffenen Kontrollmechanismen, die Verwaltungsgerichte, auch wirklich funktionie-
ren konnten. Diese Tendenz wurde bef‌l ügelt vom Vorbild der auf ihrem Höhepunkt stehenden pandek-
tistischen Zivilistik, die sich ihres aus dem römischen Recht entwickelten Begriffsapparats sicher war, die
eine „Construktionsjurisprudenz” favorisierte und die ökonomischen Interessen sowie die Zwecke der
Rechtsinstitute ausblendete. Die sich formierende Verwaltungsrechtswissenschaft suchte dort die nahe-
liegende Anlehnung, um die Ebene juristisch anerkannter Teildisziplinen zu erreichen. Rechtsstaat und
1 M. Stolleis. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft
1800–1914. München: Beck 1992, S. 229 ff., S. 381 ff. mit weiteren Nachweisen (m.w.N.). Auf diese Darstellung beziehen
sich die folgenden Ausführungen. Sehr knapp nun M. Stolleis. Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine
Geschichte 16.–21. Jahrhundert. München: Beck 2014, S. 77 ff.
http://dx.doi.org/10.12697/JI.2014.21.02

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