Zur Charakteristik führender juristischer Periodika im 19. Jahrhundert in Deutschland

AuthorJoachim Rückert
PositionProf. Dr. jur. Universität Frankfurt am Main
Pages19-39

Dieser Artikel wurde mit der Unterstützung des ESF Grant Nr. 7923 veröffentlicht.

I Eine Expedition

Mein Titel folgt einer freundlichen Anregung der Tagungsleitung. 1 Er führt, wie es scheint, recht bieder in eine ziemlich bekannte Landschaft. AcP 2 und Savigny-Zeitschrift, Jherings Jahrbücher und Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft, Zeitschrift für Staatswissenschaften, Archiv für öffentliches Recht, Verwaltungsarchiv - alles wohlbekannte Namen. In der Tat wurden alle diese Zeitschriften bereits im 19. Jahrhundert begründet. "Zeitschrift" diente dabei seit Savignys "Zeitschrift" von 1815 als Kennwort einer wissenschaftlichen Ausrichtung, anders als der allgemeinere Name "Archiv". 3 Dieser Nimbus von "Zeitschrift" klingt in der Vorliebe dafür bis heute nach. Die allgemeinere Bezeichnung Periodika erfasst aber neutraler die Gesamtheit der Annalen, Archive, Beiträge, Blätter, Jahrbücher, Magazine, Mitteilungen, Monatsschriften, Wochenblätter, Zeitschriften, Zeitungen - wie sie auch sich nennen mögen. Unberücksichtigt bleiben hier die Gesetz-, Verordnungs-, Ministerialblätter und sonstige "amtliche" Verlautbarungsorgane. 4 Sie zeigen ein klar eigenes Profil im Rahmen des bekannten Verrechtlichungsprozesses im 19. Jahrhundert. Die Reise in die juristische Periodikawelt des 19. Jahrhunderts in Deutschland hat aber doch eher den Charakter einer Expedition, als den eines gemütlichen Erinnerungsausflugs. Die erste Etappe muss nämlich heißen: Im Dschungel - was tun? (II) Mit der Machete kommen wir nicht durch - durch, das hieße nämlich, durch die rund 550 juristischen Periodika seit ca. 1800 und die allein rund 270 seit 1871 bis 1900 oder rund 400 seit 1850 eine außerdem um mindestens 100 auf 500 zu ergänzende Zahl. 5 Ähnlich gewaltige Dimensionen erreichte nur die ähnlich föderale Periodikawelt der italienischen Staaten mit rund 530 Einheiten von 1850-1900. 6

Die zweite Etappe kann daher nur als eine sogenannte Höhenkammwanderung (um das kritische literaturgeschichtliche Stichwort der 1970er Jahre zu verwenden) stattfinden (III). Es muss und kann dabei etwas genauer betrachtet werden, was sich generell heraushebt. Das ist jedenfalls der Fall, wenn eine Zeitschrift über 10 Jahre andauerte oder gar bis heute aushielt. Dieses Kriterium ist bewusst neutral gewählt, nur die Jahre zählen also zunächst. Denn was ist eigentlich eine "führende" Zeitschrift - eine offenbar abgründige Frage nach dem "Führenden". Wir verfügen für die Jurisprudenz leider nicht über eine so urteilsintensive Übersicht eines glänzend informierten Zeitgenossen, wie etwa die von Gustav Schmoller zu den ökonomischen und politischen Staatswissenschaften von 1885 7 , die uns zuverlässig zum zeitgenössisch Führenden führen könnte. Die Forschung bietet inzwischen einige Versuchsbohrungen, insbesondere in dem grundlegenden Medienband von 1999 8 , aber keinen Überblick zum "Führenden" in Deutschland. Wissenschaftsgeschichtlich hat Paolo Grossi 1982/83 die Thematik systematisch und für "tutti i giuristi" eröffnet. 9 Der deutsche Reichtum war nur vereinzelt als erstrangige Quelle erkannt und genutzt worden. 10

In einem vierten und letzten Teil werde ich versuchen, einige allgemeinere Charakteristiken, Tendenzen und Bedingungen plausibel zu machen, sowie einige Vergleichspunkte heran zu ziehen (IV).

II Im Dschungel also - was tun?
1. Die Dimensionen

Da die Machete immer nur ein gar zu kleines Stück klärt, muss die Vogelperspektive gewählt werden. Aus ihr sieht man allerdings sehr vieles einfach nur in Grün. Aber: Es gibt doch rettende Listen und Verzeichnisse. Sie erlauben auch einige Quantifizierungen. Als Verzeichnis maßgebend ist die dreibändige "Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebiets bis 1900" von Joachim Kirchner. 11 Dort findet man zum ganzen 19. Jahrhundert ca. 575 juristische Periodika, darunter freilich auch viele Gesetzblätter und Amtsblätter, einige wenige Buchreihen und weniges Deutschsprachige aus Österreich und der Schweiz, die hier abzuziehen wären. Es kommen aber trotz aller bewundernswerten Akribie Kirchners relevante Ergänzungen aus anderen Quellen hinzu. 12 Die rund 575 Einträge bei Kirchner erfassen eine Menge Amtsblätter u.ä., wie soeben erwähnt, von wissenschaftsgeschichtlich anderem Charakter und sind insoweit hier zu bereinigen um ca. 65 13 und weitere rund 20 für bloße Fortsetzungen mit geändertem Titel unter neuen Zählnummern, auf rund 490. Nimmt man die geschätzten Ergänzungen bei Mohnhaupt und im Münchener Verzeichnis wie erwähnt wieder dazu, so landet man wieder mit ca. zusätzlichen 80 Einträgen bei zusammen 570. Im Ergebnis handelt es sich um eine Dimension von ca. 570 14 im 19. Jahrhundert existent gewesenen Zeitschriften, Zeitungen und Entscheidungssammlungen.

Statistisch haben das Material dieser Periodika allgemein aufbereitet Kootz 1908 und Lorenz 1937 nach dem Klassiker "Sperling" und einigen Zusatzquellen, sowie Arends/Klippel 1999 für den Bereich Recht nach Kirchner 15 . Seit 1887 ist die verlässlichste und umfassendste Quelle das jährliche "Zeitschriften- und Zeitungsadreßbuch" für den Buchhandel von H.O. Sperling, kurz "Der Sperling".

Um die Dimensionen etwas abschätzbar zu machen ein Minimalvergleich: Allein 1997 gab es in Deutschland rund 500 laufende juristische Fachzeitschriften 16 , 1913 zählte man 627 als Höchststand seit 1887 mit 186; 1930 waren es ‚nur‘ 260 bzw. 298, 1938 155; aber dabei waren seit 1922 die "sozialwissenschaftlichen" Periodika abgetrennt, die 1930 allein 476 ausmachten - zusammen wie 1913 waren es also mit 627 zu 774 erneut mehr, freilich dies wieder nicht voll relevant. 17 Statistika, sie werden schnell zu genau - jedenfalls lesen wir heute in einem einzigen Jahr mit rund 500 gewissermaßen ein ganzes 19. Jahrhundert, schaut man einmal nur auf je einen Band. Nach einem nur sehr allmählichen Anstieg im frühen 19. Jahrhundert nach 1815 (die Napoleonzeit hatte stark reduziert) fand eine erste Explosion dieser Periodikawelt statt seit 1871 im neuen Deutschen Reich. Es folgte ein Anstieg der Neuerscheinungen um rund 100% seit den 1850er und 1860er Jahren und ein erneuter Boom um rund 300% in den 1890er Jahren gegenüber den 1860ern. Die Zuwachsdimensionen an Neugründungen sind also gewaltig, nämlich 18 : 1850er Jahre: 18, 1860er: 28, 1870er: 42, 1880er: 99, 1890er: 109 neue juristische Periodika.

Daneben steht übrigens die meist übergangene ebenfalls gewaltige Umfangsvermehrung der einzelnen Jahrgänge der meisten Langläufer. So wuchs das "Archiv für civilistische Praxis" von einem Anfangsdurchschnitt nach 1818 um 15 Seiten (pro Beitrag und Band) auf rund 26 Seiten nach 1822, rund 30 um 1867, aber dann bis zu 40 und deutlich mehr seit 1893; also verdoppelte, ja verdreifachte es sich. Das belegt eine Art zweite ‚Revolution des Geistes‘. Nach 1789 meint dieses geflügelte Wort die deutsche Lösung des Denkens und Dichtens in die Zukunft, nach 1830 und deutlich nach ca. 1860 beginnt eine gewaltige, sozial viel allgemeinere Schreibproduktion, auch eine Revolution des Geistes.

2. Der Übergang zu "Deutsch"

Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 bedeutete bekanntlich eine grundlegende Neuordnung und Zentralisierung der Justiz und der Gesetzgebungsinstitutionen und damit einen wesentlichen Verfassungswandel auch in den Ländern. 19 Die bisherigen zahlreichen Entscheidungssammlungen partikularer Gerichte wurden konzentriert 20 und ebenso die zahlreichen preußischen, bayrischen, sächsischen, mecklenburgischen, thüringischen, rheinischen u.a. Zeitschriften, z. B. die in mehreren Wellen verbreiteten Gerichtszeitungen 21 mit ihren allgemein interessierenden Nachrichten. Sie wären wahrscheinlich ein Thema für sich. Die bis dahin herrschende Dominanz der partikularen Literatur und besonders ihrer Periodika trat zurück und wurde neu überlagert durch reichseinheitliche Periodika. Etliche sogenannte Central- oder Zentralblätter entstanden, etwa ein "Zentralblatt für Rechtswissenschaft" 1881, ein "Sozialpolitisches Zentralblatt" mit juristischer Perspektive 1892, auch ein "Zentralblatt für freiwillige Gerichtsbarkeit" 1890, für "Jugendrecht" 1908, für "Handelsrecht" 1897. Ältere Zeitschriften bemühten sich von nun an ein "Centralorgan" zu werden, so etwa der "Gerichtssaal" seit 1858. 22

Ebenso nahmen viele Periodika nun das Wort "deutsch" in den Namen auf, teils ganz neu oder in Umstellung ihres Titels, so etwa die "Zeitschrift für Deutschen Zivilprozess" 1880, die "Annalen des Deutschen Reiches" 1888, Die "Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht" 1892, die "Deutsche Juristenzeitung" 1896, die "Deutsche Notarzeitschrift" 1900 und die "Deutsche Richterzeitung" 1909. Gruchots "Preußische Beiträge" wurden zu "Deutschen Beiträgen" 1871 und ebenso Goldtammers "Archiv für Strafrecht" zu einem "Deutschen Archiv" 1871. Der politische Einigungsprozess schlägt somit unmittelbar durch auf die juristische Publizistik und verändert sie auch inhaltlich stark. Freilich erkennt man kaum methodische Änderungen. Sie sind offenbar von diesem Aspekt nicht abhängig. Der nationale Aspekt ist relativ leicht erkennbar. Was sieht man sonst?

3. Tabellarischer Überblick

Für einen besseren Überblick ebenso wie einige Anschauung habe ich vier alphabetische Tabellen erstellt (s.u. V.). Sie nennen für die Zeit vor 1830 nur weniges zur Erinnerung, werden aber für nach 1830 ziemlich genau. Sie enthalten nun alle Langläufer, d.h. Zeitschriften von mehr als zehn Jahren Laufzeit; nur bei den Entscheidungsammlungen wurde auf die annähernde Vollständigkeit von rund...

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