Europäisierung des Privatrechts - vom Beruf unserer Zeit für ein Europäisches Privatrecht

AuthorPeter Schlechtriem
PositionDr. Dr. h. c. mult., Professor emeritus, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Pages24-31

Peter Schlechtriem

Dr. Dr. h. c. mult., Professor emeritus, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Europäisierung des Privatrechts - vom Beruf unserer Zeit für ein Europäisches Privatrecht

Einführung

Gustav Boehmer, einer der großen Gelehrten der vormals Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg in Deutschland, pflegte seiner Vorlesung "Einführung in das Bürgerliche Recht" eine persönliche Erinnerung voranzustellen: Er habe mit einer Gruppe Kommilitonen aus Greifswald (Deutsch-
land) in der Nacht vom 31.12.1899 zum 1.1.1900 ein Freudenfeuer entzündet und, um dieses Feuer tanzend und singend, das zum 1.1.1900 in Kraft getretene neue Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich begrüßt.

Werden wir in der voraussehbaren Zukunft Freudenfeuer entzünden, um ein neues Europäisches Zivilgesetzbuch zu begrüßen? Wird sich damit der Traum eines Eurocode erfüllen, den Juristen wie Raymond Saleilles und Edouard Lambert schon im Jahre 1900 auf dem 1. Kongreß für Rechtsvergleichung anläßlich der Weltausstellung in Paris vorgestellt haben?2 Wohl eher nicht, obwohl es auffällige Parallelen zwischen der Entwicklung in Deutschland im 19.Jahrhundert und der Entwicklung Europas in der zweiten Hälfte des 20.und im angebrochenen 21. Jahrhundert gibt. Ihnen möchte ich hier nachgehen, freilich zuweilen in recht groben Strichen skizzierend und juristische Details so vereinfachend, daß sie auch für den nichtjuristischen Leser von Interesse sein könnten.

I Vereinheitlichung des Privatrechts in Deutschland im 19. Jahrhundert

Wenn wir uns die Situation des Zivilrechts in Deutschland im 19. Jahrhundert, das heißt in dem 1815 entstandenen Deutschen Bund, diesem mit bundesstaatlichen Elementen durchsetzten Staatenbund, vergegenwärtigen, dann ist die Rechtszersplitterung in viele Partikularrechte3, die zunächst auch nach der Reichsgründung 1871 fortbestand und erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch am 1.1.1900 endete, für den Rechtszustand im Deutschland des 19. Jahrhunderts kennzeichnend. Aber "der Kampf für nationale Rechtseinheit gehört(e) zu den beherrschenden Themen deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert"4, und er hatte schon 1814 mit Anton Friedrich Justus Thibauts Streitschrift "Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" begonnen. Ich bin weder berufen noch kompetent, die Frontstellungen nachzuzeichnen, die sich in diesem Kampf im 19. Jahrhundert gebildet hatten, etwa zwischen Thibaut und Friedrich Carl von Savigny über die Frage eines Gesetzbuches oder eines weitgehend der Wissenschaft überantworteten Rechts in Fortentwicklung historischer Grundlagen, zwischen Romanisten und Germanisten, usw., doch ist ein Argument Thibauts erinnernswert, das auch am Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts von Befürwortern einer europäischen Rechtsvereinheitlichung zitiert wird5: Die Vielfalt von Rechtsordnungen verursacht und erhöht Rechtsfindungskosten und andere Transaktionskosten, muß doch bei einem Fall, der Grenzen eines Rechtsgebiets überschreitet, zunächst einmal das sog. Kollisionsrecht oder internationale Privatrecht befragt werden, also Rechtsregeln, die uns sagen sollen, welches Recht im Falle einer Grenzüberschreitung anwendbar ist. Das war zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Land zu Land verschieden, zumeist ungeschrieben und eine Geheimwissenschaft weniger Spezialisten, und wenn man nach diesem unsicheren Regelwerk schließlich das anwendbare materielle Recht ermittelt hatte, war - dies der zweite Schritt der Rechtsfindung - auch dieses materielle Recht oft fremd und erklärungsbedürftig. Das - so Thibaut - "[störte] die friedliche Sicherheit des Bürgers tausendfältig und [füllte] nur den Juristen die Taschen". Thibaut fuhr fort: "Die Einheit des Rechts würde dagegen den Weg des Bürgers von dem einen Lande in das andere ebnen und sicher machen und schlechte Anwälde würden nicht mehr Gelegenheit finden, bey dem Verkauf ihrer Rechtsgeheimnisse die armen Ausländer schändlich auszusaugen und zu mißhandeln."6

Vermutlich wäre der Streit der Gelehrten um das Ob und Wie einer Vereinheitlichung des deutschen Privatrechts ein solcher geblieben, wenn nicht zwei Entwicklungen als Treibsätze für die Ausbildung eines einheitlichen Bürgerlichen Rechts gewirkt hätten: Zum einen fielen aufgrund des Deutschen Zollvereins 1833, insoweit vergleichbar der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957, die wichtigsten tarifären Hindernisse für den Handelsverkehr in Deutschland, zum anderen führte die Erfindung der Eisenbahn und der Bau eines Eisenbahnnetzes in Deutschland, für den der Name Friedrich Liszt steht, aber auch die Einführung des Morsetelegraphen ab 1836 zu einer enormen technischen Erleichterung für den Warenverkehr und der dafür erforderlichen Kommunikation der Akteure des Waren- und Rechtsverkehrs, vergleichbar den technischen Entwicklungen des Transport- und Kommunikationswesens in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Die erwähnten Reibungsverluste durch Rechtsverschiedenheit wirkten sich deshalb zunehmend stärker aus und ließen den Ruf nach Reformen, nach Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung, zu einer Forderung der "bürgerlichen Unternehmerklasse" werden7, die sich natürlich auch schon damals besser Gehör verschaffen konnte als Rechtsprofessoren. Aber gerade auch die Wissenschaft machte mit vielfältigen Initiativen auf die Notwendigkeit einer Rechtsvereinheitlichung aufmerksam und unterbreitete Vorschläge, wie diese zu erreichen sei.

Ob die Organe des Deutschen Bundes die legislative Kompetenz zum Erlaß eines Zivilgesetzbuches hatten, war unsicher; jedenfalls ging nach 1848 die überwiegende Meinung wohl dahin, daß der Bund als solcher nicht zur Beschlußfassung über Fragen des Zivilrechts zuständig war8. Die sog. Paulskirchenverfassung von 1848 hatte freilich in ihrem Art. 64 eine Kompetenz der "Reichsgewalt" u.a. auch für das "bürgerliche, Handels- und Wechselrecht" vorgesehen, und tatsächlich hatte die Nationalversammlung 1848 auf der Grundlage entsprechender Vorarbeiten zwischenstaatlicher Kommissionen bereits eine "Allgemeine Deutsche Wechselordnung" (WO) zur Vereinheitlichung des Wechselrechts erlassen - ein wirtschaftspolitisch wichtiges Gesetz, waren doch Wechsel damals die einzigen Instrumente des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, und es bedarf keiner weiteren Ausführungen um zu erkennen, daß bei einem von einem Kaufmann in Karlsruhe ausgestellten, auf eine Berliner Bank gezogenen und an einen Stuttgarter Gläubiger begebenen Wechsel die Notwendigkeit, zunächst einmal zu prüfen, ob und inwieweit badisches, württembergisches oder preußisches Wechselrecht anwendbar war, und was diese Rechte jeweils beinhalteten, eine erhebliche Erschwerung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs bedeutete.

Ob diese Wechselordnung als Reichsgesetz in Kraft treten konnte, ob also die Nationalversammlung eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz hatte, ist streitig, wird heute aber wohl überwiegend verneint. Aber diese WO der Nationalversammlung war mit dem Scheitern dieses ersten gesamtdeutschen Parlamants nicht tot, sondern sie wurde in der Folge von allen deutschen Ländern sowie von Österreich und Liechtenstein aufgrund der jeweiligen eigenen Gesetzgebungskompetenz der Länder in einem Verfahren eingeführt, für das wir heute den Begriff der Parallelgesetzgebung verwenden. Gleiches geschah mit dem Handelsrecht: Auf der Grundlage von Arbeiten einer Kommission, eingesetzt von der Bundesversammlung, wurde ein Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch verfaßt und 1861 vom Bundestag "gutgehießen"9, implementiert als Gesetz aber wurde es von den Einzelstaaten einschließlich Österreichs im Wege der Parallelgesetzgebung.

Noch weitergehend waren die Bemühungen um eine Vereinheitlichung des Obligationenrechts insgesamt, also des Regelwerks, das vertragliche Transaktionen über Güter im weitesten Sinne steuern und ihren Schutz gegen Beeinträchtigung oder Verlust erreichen soll. Diese Bemühungen hatten im sog. "Dresdener Entwurf" von 1866 ihren Niederschlag gefunden, der dann von den Gesetzgebungsarbeiten für ein deutsches Bürgerliches Gesetzbuch überholt wurde, diese aber stark beeinflußte. Denn mit der Reichsgründung und der Reichsverfassung war der Prozeß der Rechtsvereinheitlichung in eine neue Phase getreten, insbesondere, als im Jahre 1873 durch zwei Novellen zur Reichsverfassung, die zunächst nur eine Kompetenz für das Obligationenrecht enthalten hatte, eine Reichskompetenz für das gesamte Bürgerliche Recht geschaffen worden war, auf deren Grundlage dann das BGB als reichseinheitliches Gesetz erlassen werden konnte10.

II Internationale Vereinheitlichung des Privatrechts im 20. Jahrhundert

Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ist also ein Einheitsrecht, und in Deutschland wurde damit nachvollzogen, was andere europäische Nationalstaaten schon früher erreicht hatten, Frankreich etwa mit dem Code Civil von 1804, Österreich mit Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811, und was in der Schweiz zeitlich in etwa parallel verwirklicht wurde. Die Entwicklung auf nationaler Ebene wiederholte sich im 20. Jahrhundert auf der internationalen Ebene: Wieder war es zunächst das Wechselrecht, um dessen internationale Vereinheitlichung man sich schon 1906 bemüht hatte und die man mit den Genfer Wechsel- und Scheckrechtsübereinkommen 1930/31 erreichte. Natürlich gab und gibt es keinen internationalen Gesetzgeber, der solch...

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