Beispiel und Ausnahme. Überlegungen zu Ciceros Rechtshermeneutik

AuthorMelanie Möller
Pages99-109
ANCILLA IURIS (anci.ch) 2015: 81 – Gesetz – Rethorik – Gewalt 81
Beispiel und Ausnahme.
Überlegungen zu Ciceros Rechtshermeneutik
I. Verhältnisbestimmungen: Von der Ausnahme zur Einrede
In den unterschiedlichsten Zusammenhängen scheinen die Begriffe exemplum und excep-
tio eine diffuse Einheit zu bilden. Besonders eindrücklich hat ihre gegenseitige Interferenz
zuletzt Giorgio Agamben in seiner Diskursgeschichte des homo sacer herausgearbeitet. Der
Blick auf dessen römische Wurzeln legt ein dialektisch konzipiertes Phänomen frei, das die
verschwommene Grenze zwischen einem Innen und einem Außen überschreitet und die
Determinanten überkommener Referenzverfahren zu verkehren scheint: In Rede steht das
Beziehungsgeflecht von Besonderem und Allgemeinem, von Einzelnem und Gemeinschaft,
von Exklusion und Inklusion, von Deduktion und Induktion.
Die Affinität der Begriffe exemplum und exceptio liegt bekanntlich nicht nur in ihrer disso-
ziierenden Semiotik, sondern auch in ihrer etymologischen Semantik begründet: Beide sind
mit der separativen, ein Teil-Ganze-Verhältnis suggerierenden Präposition ex präfigiert. Die
in ihr angezeigte Auß enorientierung wird f orciert durch die Dy namik der die Komposita
vervollständigenden Verbalhandlungen: hier emere,1 dort capere (also jeweils ein Verb des
Wortfeldes „nehmen”).
Als Grundbedeutung für exemplum ergibt sich quod e copia rerum aequalium eximitur.2 Frü-
heste Belege dokumentieren die Grundfun ktion der „(Waren-)Probe.”3 Sie besteht in der
praktischen Bestätigung, mithin Plausibilisierung einer theoretischen Behauptung. Die dem
exemplum eingeschriebene Bedeutung als Objekt und Geschehen einer Waren-/Kostprobe
insinuiert einen gleichermaßen sinnlichen (taktilen) wie kognitiven Prozess: Durch ver-
gleichendes Betasten und Bemessen lässt sich der Interessent zu einer Überzeugung ver-
leiten, die eine Entscheidung, hier: eine Auswahl aus dem Anschein nach gleichartigen
Dingen bewirkt. Ihr liegt eine rhetorisch-hermeneutische Substruktur zugrunde.
Gegen alle Versuche, divergierende Funktionen des exemplums zu fixieren und die des
rhetorischen auf ein bestimmtes (vorwiegend narratives) Spektrum zu beschränken, lässt
sich leicht der Nachweis seiner Polyfunktionalität erbringen:4 Sie reicht vom deduktiven
Beleg- bis zum induktiven Ausgangsbeispiel und umfasst zudem normative Tendenzen. Wie
1* Der modifizierte englische Originalbeitrag erscheint un ter dem Titel „Exemplum and Exceptio: Building
blocks for a rhetorical theory of the exceptional case“ in: M. Lowrie/S. Lüdemann (eds.), Exemplarity and
Singularity. Thinking through Particulars in Philosophy, Literature, and Law (2015), 96–110.
1exemplum setzt sich zusammen aus dem Präfix ex, dem Verbalstamm em- („nehmen“) und dem Suffix -lo,
das in der Regel das Werkzeug einer Handlung anzeigt: In di ese Handlung ist die Ausführung eben so
eingeschlossen wie ihr Ergebnis. Vgl. bes. Hildegard Kornhardt, Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche
Studie (1936), 1–9.
2Thesaurus Linguae Latinae, s.v. exemplum I.1.
3 Häufig sind Junkturen aus exemplum und sumere, promere, in promptu habere, proponere, proferre, prodere, edere,
ostendere, capere, petere, expetere, contueri, intueri, praebere, sequi, (exemplo) uti (später kommen über diese
Grundbedeutung hinausweisende Verbindungen mit narrare, animo repetere, nosse etc. hinzu). Vgl. zur
Grundbedeutung z.B. Cic. inv. 1,88; rep. 2, 66; Ve rr 2, 2, 118; Verr. 2, 5, 137; Rhet. Her. 4, 9; 4, 10.
4 Vgl. Einteilung und Begründung bei Jens Ruchatz/Stefan Willer/Nicolas Pethes, Zur Systematik des Beispiels,
in: Dies. (eds.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen (2007), 9–59.
Melanie Möller*

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